Beschreibung
Mitglieder der Kommunistischen Partei der Sowjetunion waren zu regelmäßiger »Selbstkritik« angehalten, einer Art von Bekenntnis, in dem der Einzelne Rechenschaft vor dem Kollektiv ablegte. Berthold Unfried stellt diese Praxis und ihre Auswirkungen auf die Menschen, die sie ausübten, anhand von Archivquellen der 1930er Jahre dar. Er ordnet sie in Praktiken des Sprechens über sich selbst ein, zu denen auch die katholische Beichte gehörte. Gemeinsam ist ihnen die Form der Selbstanklage, in der sich das Subjekt präsentiert, indem es über seine Fehler spricht.
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Autorenportrait
Berthold Unfried, Dr. phil. habil., ist Dozent für Sozialgeschichte an der UniversitätWien.
Rezension
Studien zur Historischen Sozialwissenschaft Hg. von Gerhard Botz und Josef Ehmer
Leseprobe
Einführung Dieses Buch hat eine lange Vorgeschichte. Am Anfang stand die Öffnung der sowjetischen Archive. Sie gaben eine Masse an bemerkenswerten Dokumenten frei. Diese Dokumente protokollierten die Rede von Menschen, die einander und sich selber diverser Unzulänglichkeiten und Verfehlungen bezichtigten. Sie zeigten einen Diskurs, der darauf basiert, sich nicht zu rechtfertigen, sondern sich zu kritisieren. Diese sowjetische Gewohnheit war aus der Zeit des Terrors bekannt. Die Angeklagten in den Schauprozessen der 1930er Jahre beschuldigten sich selbst, statt Argumente zu ihrer Verteidigung vorzubringen. Dass ein selbstkritisches Herangehen an sich selbst als Voraussetzung für eine parteimäßige Haltung galt, konnte man noch aus der Welt des 'Realsozialismus' der 1970er Jahre hören. Aber dass eine Selbstthematisierung im Modus von Selbstkritik eine Massenpraxis war, die im Grunde von jedem Parteimitglied erwartet wurde, das zeigten erst die Protokolle dieser Übungen, die nach dem Zusammenbruch der Systeme zugänglich wurden, in denen sie üblich waren. Womit war diese Praxis vergleichbar? Auf der Suche nach Vergleichbarem kam mir ein Stück eigener Geschichte zu Hilfe. Wie die meisten katholisch erzogenen Kinder hatte ich in den 1960er Jahren noch Bekanntschaft mit einer jahrhundertealten Art gemacht, sich über seine Sünden zu thematisieren. Das waren zwar gänzlich formelhafte Sprechakte eines Schülers, die sich im späteren Leben nicht weiter entwickelten, sich nicht zu einer zusammenhängenden Weise, über sich selbst zu sprechen, vertieften. Aber sie disponierten doch zu einer bestimmten Art, über sich selbst zu denken, das Gewissen zu erforschen, nach Verfehlungen und Abirrungen zu suchen. Lag hier nicht eine Vergleichsmöglichkeit zwischen Selbstkritik und Beichte? Übten nicht auch die Beichtenden 'Selbstkritik', und 'beichtete' nicht auch der Selbstkritiker seine Verfehlungen seinen Genossen? Schon Zeitgenossen haben eine gedankliche Assoziation zwischen diesen beiden Formen hergestellt. Gemeinsam war doch den beiden Formen, dass sich der Einzelne selbst bezichtigte. Das erscheint doppelt auffällig in unserer Zeit, da es das Ziel des Einzelnen ist, seine Vorzüge und seine Individualität mittels aller möglichen Techniken der Selbstpräsentation in den Vordergrund zu stellen. Hatten diese Selbstbezichtigungen mit dem Verhältnis des Beichtenden und des Selbstkritik Übenden zu den Institutionen zu tun, innerhalb derer er seine Bekenntnisse über sich selbst ablegte? Das erschien als eine zweite mögliche Vergleichsperspektive: Selbstthematisierung auf Veranlassung und innerhalb von Institutionen. Welche Form der Vergesellschaftung des Einzelnen bringen diese Selbstthematisierungen zum Ausdruck?
Inhalt
Einführung
1. Grundbegriffe: Selbst, Subjekt, Individuum
1.1. Subjektivierung
1.2. Quellen des Subjekts
1.3. Selbstthematisierung in Institutionen
2. Die Beichte als institutionalisierte Form der Selbstthematisierung
2.1. Zugangsweise
2.2. Die Beichte als Medium der Subjektivierung
2.3. Quellen
3. Die Beichte: Selbstthematisierung als Sündenbekenntnis
3.1. Gewissen des Einzelnen und Moral der Kirche
3.2. Subjektivierung und Disziplinierung
3.3. Historische Entwicklungslinien der Ohrenbeichte
4. Formen der Beichte
4.1. Volksbeichte: Die sakramentale Ohrenbeichte
4.2. Generalbeichte
4.3. Virtuosenbeichte
4.4. Die Beichte als Ritual der Seelenführung
5. Die Beichte und neuere Formen der Selbstthematisierung
5.1. Von der Seelsorge zur Selbstsorge
5.2. Beichte und Psychoanalyse
5.3. Die Beichte als Gericht
6. Der Adressat der Beichte und Vertreter der Institution: Der Beichtvater
6.1. Versuchungen des Beichtvaters
6.2. Der gütige Beichtvater
6.3. Die Last des Beichtstuhls
7. Themen der Beichte
7.1. Die Sünde
7.2. Sünden der Sexualität
7.3. Der Mann, seine Frau und ihr Beichtvater
8. Die Beichte als Medium von Subjektivierung und Individualisierung?
8.1. Die Beichte als Medium der Individualisierung?
8.2. Wirkungsmacht der Beichte als Medium von Subjektivierung
8.3. Die Beichte als autobiographische Form
8.4. Resümee
9. Von der Beichte zur Talkshow: Selbstthematisierung in unserer Zeit
10. Selbstkritik als Form und als Modus sowjetischer Selbstthematisierung
10.1. Selbstkritik: Begriff und Praxis
10.2. Formen sowjetischer Subjektivierung
10.3. Russische Wurzeln?
11. Quellen
12. Institutionelle Rahmen der Ausübung von Selbstkritik
12.1. »Säuberung«
12.2. Kritik und Selbstkritik als Parteiverhör
12.3. Selbstkritik als »Geständnis«
13. Funktionen und Themen von Selbstkritik
13.1. Selbstkritik als Erziehungsmittel. Selbstevaluierung durch »Selbstberichte«
13.2. Kritik und Selbstkritik als Methode der Entdeckung und Korrektur von Fehlern
13.3. Kritik und Selbstkritik als Methode der Demaskierung von Feinden
13.4. Den »kleinbürgerlichen Individualismus« ablegen
13.5. Reden über Öffentliches und Privates
13.6. Kritik und Selbstkritik als Mittel zur Umkehrung der Hierarchien und als Mittel antibürokratischen Terrors
13.7. Bolschewistische Wachsamkeit: Sprechen über andere als indirektes Sprechen über sich selbst
14. Anspruch und Wirklichkeit von Selbstkritik
15. Schreiben über sich an die Partei: Parteiautobiographien
15.1. Avtobiografija und Anketa
15.2. Modellautobiographien
15.3. Modellautographie und Parteilebenslauf
15.4. Das Subjekt in der »Autobiographie«
15.5. Fragile Identitäten
16. Der Blick der Partei auf ihre Mitglieder: Kadercharakteristiken
16.1. Der gute Parteikader
16.2. Der schlechte Parteikader
16.3. Kadercharakteristiken von Leninschülern
16.4. Das Bild vom Feind, Figur einer allseitigen Bedrohung
17.Das Bild der Partei
18. Epilog: Nachleben und Absterben der Selbstkritik im »Realsozialismus«
18.1. Kritik und Selbstkritik in Mitglieder-»Säuberungen«
18.2. Schauprozesse
18.3. Selbstkritik im Parteialltag
18.4. Wiedergänger von Selbstkritik
19. Resümee: Beichte und Selbstkritik
19.1. Scham, Schande und Schuld
19.2. Strukturen institutionalisierten Sprechens über sich selbst
Abkürzungsverzeichnis
Archivmaterial und Interviews
Literatur
Bildnachweis
Schlagzeile
Studien zur Historischen Sozialwissenschaft Hg. von Gerhard Botz und Josef Ehmer