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Behinderte Anerkennung?

Interessenorganisationen von Menschen mit Behinderungen in Westdeutschland seit 1945, Disability History 3

Erschienen am 15.04.2017, 1. Auflage 2017
46,00 €
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593506203
Sprache: Deutsch
Umfang: 418 S.
Format (T/L/B): 2.5 x 21.3 x 14.1 cm
Einband: kartoniertes Buch

Beschreibung

Menschen mit Behinderungen waren nie ausschließlich Objekte von Sozialpolitik, Wissenschaft und Gesellschaft. Auch in der Bundesrepublik sind sie als selbstbestimmte Akteure zu begreifen: Sie schlossen sich in Interessenorganisationen zusammen und vertraten eigene Vorstellungen von Eingliederung und Integration. In Organisationen wie den Kriegsopferverbänden der Nachkriegszeit, den Elternvereinigungen der 1960er-Jahre - wie der "Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind" - sowie der Behindertenbewegung der 1970erund 1980er-Jahre prägten sie das gesellschaftliche Bild von "Behinderung" und sozialstaatliche Maßnahmen mit.

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Hersteller:
Campus Verlag GmbH
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Werderstr. 10
DE 69469 Weinheim

Autorenportrait

Jan Stoll promovierte im DFG-Projekt "Geschichte von Menschen mit Behinderung seit 1945" an der Universität Kiel.

Rezension

»Jan Stoll zeigt in seiner ambitionierten Studie […], welche Interessen und Zielvorstellungen diverse Behindertengruppen entwickelten, wie sie sich artikulierten und welche Auswirkungen dies auf den öffentlichen Umgang mit Behinderung hatte. […] Stolls akribische Auswertung von Archiven und Periodika der Behindertenorganisationen selbst, aber auch von Dokumenten staatlicher Akteure, Parteien und Medien macht deutlich, dass Behinderte an der Formierung von Zivilgesellschaft und gesellschaftlicher Selbstorganisation einen wichtigen Anteil hatten.« Anna Derksen, H-Soz-Kult, 20.12.2017 »Hier [ist] eine sehr solide, spannende und sehr gut strukturierte Studie entstanden, die das noch junge Forschungsgebiet der ›Disability History‹ durch die Betroffenenperspektive ergänzt und mit validen Ergebnissen aufwartet.« Silke Fehlmann, Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 17.10.2018 »Jan Stoll ist eine sehr gute, fundierte und zugleich fokussierte Studie auf relativem Neuland geglückt. Wer immer sich mit sozial- und geschichtswissenschaftlichen Aspekten von Behinderung im deutschsprachigen Raum befasst, sollte sich unbedingt die Zeit nehmen, sie zu lesen, um nicht zu sagen: ›wird in Zukunft an ihr nicht mehr vorbei kommen‹.« Jörg Michael Kastl, Socialnet, 13.06.2018

Leseprobe

Einleitung Behinderung ist ein zeitgebundenes Phänomen. Was das ist, "Behinderung", wie sich der Begriff veränderte und welchen Anteil Betroffene an diesem Wandel hatten, wird eine Frage dieser Arbeit sein. Denn das Thema dieser Arbeit sind Interessenorganisationen von Menschen mit Behinderungen in der Bundesrepublik Deutschland von den 1940er bis in die 1980er Jahre. Menschen mit Behinderungen hatten Interessen und haben diese auch formuliert und vertreten. In welchen Formen sie dies taten, was ihre Anliegen waren und wie sich Organisationen von Menschen mit Behinderungen oder ihrer Angehörigen in der Bundesrepublik Gehör verschafften, ist die Klammer dieser Arbeit. Damit befindet sich die Geschichte von Interessenorga-nisationen von Menschen mit Behinderungen in der Bundesrepublik in ei-nem Schnittfeld unterschiedlicher Perspektivierungen und Theorieangebote. Ein Erkenntnisinteresse liegt in der Geschichte der Interessen der Betroffenen selbst. Denn diese unterlagen Wandlungsprozessen und drückten sich in unterschiedlichen Zielformulierungen und Organisationsformen aus. Zum einen spiegelten sich veränderte Interessen in differierenden Vorstellungen von gesellschaftlicher Anerkennung und Partizipation sowie von unterschiedlichen Normalitätsanforderungen. Zum anderen war die Durchsetzungsfähigkeit von Interessen an die Organisationsform und ihre Artikulationsfähigkeiten geknüpft. Auf diese Weise kann die Geschichte von Interessenorganisationen von Menschen mit Behinderungen in die Geschichte der Bundesrepublik eingeordnet werden. Des Weiteren trägt diese Arbeit zur Geschichte von "Behinderung" bei. Dieser Begriff bildete sich erst im Laufe der 1960er Jahre als Kollektivbezeichnung für körperliche, seelische und geistige Abweichungen von der Norm heraus. Die Interessenorganisationen hatten unterschiedliche Bezüge zu dieser Bezeichnung. Auf der einen Seite lehnten sie den Begriff als diskriminierend ab, auf der anderen Seite griffen sie ihn auf und fanden in ihm eine identitätsstiftende Kraft. Daher geht es auch um eine Historisierung dieser kategorisierenden Bezeichnung, ihrer zeitgenössischen Bedeutungsinhalte und Zuschreibungen, die durch die Gesellschaft und die unterschiedlichen Betroffenen vorgenommen wurden. Damit rücken Verhältnisse von Normalität und Abweichung, von Differenzierung und Homogenisierung in den Fokus. An der Gestal-tung dieser Verhältnisse hatten die Interessenorganisationen von Menschen mit Behinderungen einen entscheidenden Anteil. Forschungsstand und Fragestellung Einen Ausgangspunkt dieser Arbeit bilden die Disability Studies. Dieser jüngeren Forschungsrichtung geht es darum, Behinderung nicht als medizinisches oder essentialistisches Phänomen zu betrachten, sondern vielmehr als soziale und kulturelle Kategorie zu untersuchen. Aus diesen Forschungen lernen wir, dass Behinderung spezifischen Deutungen unterliegt, die wandelbar sind und sich im Verhältnis einer Dichotomie von Abweichung und Normalität bewegen. Behinderung ist demnach nicht etwas natürlich Erscheinendes oder Gegebenes, sondern vielmehr eine potenziell universelle Lebenserfahrung, die abhängig von ihrem Kontext bestimmt wird. Behinderung ist damit eine immer wieder neu bestimmte und verhandelte Kategorie. Daraus resultiert auch der innovative Charakter dieses Ansatzes, lassen sich doch über die Analyse von "Behinderung" Rückschlüsse auf zeitgenössische Konstruktionen von Normalität und Abweichung ziehen. Die historischen Forschungen, die aus dem Blickwinkel der Disability Studies betrieben und als Disability History bezeichnet werden, kennzeichnet zudem ein folgenreicher Perspektivwechsel: Denn aus ihrer Ablehnung einer paternalisierenden Top-Down-Perspektive, also dem Reden und Schreiben über Menschen mit Behinderungen, ergibt sich die Betonung des Subjektcharakters von Menschen mit Behinderungen und ihrer jeweiligen Handlungsmacht. Die Betroffenen selbst, ihre Anliegen und Forderungen, rücken in den Mittelpunkt. Das Diktum lautet: "Nothing about us, without us". Für die historische Forschung ergeben sich daraus mehrere Schlussfol-gerungen: Nimmt man - erstens - den eingeforderten Perspektivwechsel ernst, geraten die handelnden Akteure in den Blick. Untersucht werden daher die gesellschaftspolitischen Interessenvertretungen von Menschen mit Behinderungen, ihre selbstadvokatorische Formulierung der eigenen politischen Agenden, ihre sozialen und politischen Ziele und der Versuch ihrer Durchsetzung mit Hilfe geeignet erscheinender Mittel. Die zweite Schlussfolgerung folgt aus der ersten und betrifft den Blickwinkel der Untersuchung: Denn "[n]icht die Abweichung, die Pathologie, die irritierende Andersartigkeit" der Betroffenen wird untersucht, "vielmehr wird die Kategorie Behinderung verwendet, um die Mehrheitsgesellschaft zu rekonstruieren und von deren Analyse aus nach den Auswirkungen und Folgen für Behinderte zu fragen". Behinderung wird somit zu einer erkenntnisgenerierenden Kategorie, die Aussagen über den Umgang der Gesellschaft mit Abweichung zulässt. Insgesamt sind die Interessen- und Selbstorganisationen von Menschen mit Behinderungen selten aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive untersucht worden. Auch die Forschungslage zur Geschichte von Menschen mit Behinderungen in der Bundesrepublik ist bislang noch dünn. Wilfried Rudloff zeigt sich verwundert, dass den Kriegsbeschädigten bislang kein größeres geschichtswissenschaftliches Interesse zugekommen ist. Zunächst deutet ihre Anzahl zu Beginn der 1950er Jahre mit etwa vier Millionen Menschen auf ihre Bedeutung hin und hätte umfassendere Untersuchungen anstoßen können. Damit verbunden sind Fragen nach der Integration der großen Anzahl ehemaliger Soldaten in die junge Demokratie. Schließlich waren die gesetzlichen Maßnahmen zu ihrer Versorgung "ein bedeutendes Thema der ersten Legislaturperiode des Bundestages, ja die erste große sozialpolitische Tat des jungen Staates überhaupt". Trotz dieser im Einzelnen gewichtigen Argumente, sind Kriegsbeschädigte, ihre Versor-gung, ihre Integration oder ihre Beiträge zur Kultur der 1950er Jahre bislang kaum untersucht worden. Zwar existiert eine Reihe von Studien, die sich heimkehrenden Kriegsgefangenen widmen und auch die Transformation einer Kriegs- in eine Friedenskultur ist untersucht worden, dabei spielten die Kriegsbeschädigten aber kaum eine Rolle. Aufmerksamkeit kam Kriegsbeschädigten, ihren Verbänden oder ihrer sozialpolitischen Versorgung in erster Linie infolge des Ersten Weltkriegs zu. Sehr viel seltener geraten demgegenüber die Kriegsbeschädigten in der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs in den Blick. Desgleichen lassen sich für die folgenden Jahrzehnte Gründe anführen, die Behinderung und Interessenorganisationen von Menschen mit Behinderungen zu einem lohnenswerten Forschungsgegenstand machen. Denn Prozesse gesellschaftlicher Transformation und des Wandels von Öffentlichkeit sorgten zum einen beispielsweise infolge des Conterganskandals für eine stärkere Aufmerksamkeit für Kinder mit Behinderung, zum anderen hielt die Gesellschaft angesichts des gestiegenen Wohlstandes zunehmend nach ihren Rändern Ausschau. Dabei sind Menschen mit Behinderungen bislang zu wenig von der Forschung berücksichtigt worden, obgleich Eltern- und Expertenvereinigungen wie die "Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind" als "Motor des Umbaus" der Behindertenpolitik charakterisiert worden sind. Eine Ausnahme stellen aber Studien zur Psychiatriegeschichte und Psychiatriepatienten dar. Betrachtet man verbreitete Artikulationsformen der 1970er und 1980er Jahre, sind neue gesellschaftliche Akteure, neue politische Kulturen und Ansprüche der Partizipation in Form der neuen sozialen Bewegungen hervorgehoben worden. Auch hier blieb aber Behinderung unberücksichtigt. Aus diesen Forschungslücken ergibt sich die Auswahl der drei unter-schiedlichen Organisationsformen von Interessenorganisationen von Men-schen mit Behinderungen in der Bundesrepublik, die im Folgend...

Inhalt

Inhalt Einleitung 9 I. Kriegsopferverbände in der frühen Bundesrepublik 29 1. Kriegsopfer im Verband - Organisationsform und Zusammensetzung 34 2. Versehrtheit und Gemeinschaft - Selbstverständnis, Selbstbeschreibung und Identitätsstiftungsangebote 50 2.1 Der Kalte Krieg der Kriegsopferverbände 51 2.2 "Normalisierung" - Arbeit und Geschlecht 59 2.3 Kriegserinnerung und Demokratisierungswille - Kameradschaftliche Erfahrung und "politische Erinnerung" 66 3. Verbandliche Selbsthilfe als Politikum 74 3.1 Selbsthilfe und politische Einflussnahme 75 3.2 Sammlungen und Spenden 79 4. Öffentlichkeitsarbeit zwischen Selbsthilfe und politischer Einflussnahme 82 5. Politische Einflussnahme und Interessenpolitik im politischen Raum 86 5.1 Formen der Einflussnahme - Vorparlamentarische Einflussnahmen und Personalunionen 88 5.2 Beispiele der Einflussnahme - Das Bundesversorgungsgesetz 95 5.3 Grenzen der politischen Einflussnahme? - Die Neuordnung der Kriegsopferversorgung 102 6. Das "Ende der Nachkriegszeit" als Ende der versehrten Nation 118 II. Zwischen Fremd- und Selbstadvokation - Elternvereinigungen in den 1960er Jahren 125 1. Verein und Vereinigung - Organisationsformen der Eltern und ihre Zusammensetzung 130 2. Öffentlichkeitsarbeit und öffentliche Meinung zwischen Mitleid und aggressiver Ablehnung 137 2.1 Der Conterganskandal 141 2.2 Der "Fall Aumühle" 146 3. Konzepte sozialer Eingliederung 148 4. Selbsthilfe - Familiennahe Unterbringung und Bildungsfähigkeit 153 4.1 "Enthospitalisierung" 155 4.2 Bildungsfähigkeit und "lebenspraktische Erziehung" 165 5. Politische Einflussnahme durch Experten 179 5.1 Der Conterganskandal als Impuls 182 5.2 Auseinandersetzungen um Meldepflicht und Sterilisation 188 6. "Für die Behinderten hat die Zukunft noch nicht begonnen" 198 III. Clubs, Initiativen und Bewegung in den 1970er und 1980er Jahren 208 1. Clubs, Initiativen und Diskussionszusammenhänge - Neue Organisationsformen und deren Zusammensetzung 213 2. Partizipation, Integration und Emanzipation 232 2.1 Demokratisierung und Politisierung in den 1970er Jahren 234 2.2 Radikalisierung in den späten 1970er Jahren - Formen und Funktionen politischer Erinnerung 238 2.3 Behinderungsbegriff und Integrationskonzepte 243 2.4 Abgrenzungen und Ausgrenzungen 255 3. Selbsthilfe - Selbstbewusstsein, Freizeitgestaltung und neue Ideen selbstbestimmter Hilfen 260 3.1 Räume des Austausches 262 3.2 Freizeitgestaltung 266 3.3 Pragmatisch und zielorientiert - Selbsthilfeinitiativen zur selbstbestimmten Hilfeleistung und Assistenz 272 4. Öffentlichkeitsarbeit und Interessenartikulation 277 4.1 Neue Öffentlichkeit und Öffentlichkeitsarbeit 280 4.2 Partizipation, Protest und Provokation - Interessenartikulation 290 5. Differenzierungsprozesse der 1980er Jahre 322 6. Behindertenbewegung als neue soziale Bewegung? 344 IV. Zusammenfassung und Fazit 354 Anhang 379 Dank 418

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