Beschreibung
Im Jahr 2011 bricht die tunesische Revolution aus. Bürgerinnen und Bürger besetzen im ganzen Land öffentliche Plätze, fordern politische Freiheits- und Gleichheitsrechte und soziale Gerechtigkeit. In dieser Studie kommen die Akteurinnen und Akteure der Revolution zu Wort. So werden ihre Motive und ihre politischen Vorstellungen sichtbar. Das Buch gibt Aufschluss über die ideellen Wurzeln der Revolution und fragt nach den Entstehungsbedingungen politischer Praxis und Vorstellungskraft in Kontexten von Protesten. Ausgewählt für die Shortlist des Opus Primum - Förderpreis der VolkswagenStiftung für die beste Nachwuchspublikation des Jahres 2020
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Autorenportrait
Nabila Abbas ist Politikwissenschaftlerin und hat an der Université de Paris 8 Vincennes-Saint-Denis und an der Universität Gießen promoviert. Sie lehrt an Sciences Po Paris.
Rezension
»Ein auf mehreren Ebenen wichtiger Forschungsbeitrag. So bietet das Buch – neben einer eindrucksvollen Schilderung der Vorgänge ab 2010 – durch seine gelungene Kontextualisierung mithilfe der Staatsnarrative und ihrer Umsetzung einen guten Einstieg in die Geschichte und Politik Tunesiens. Daneben zeigt Abbas auf, dass Revolutionen ohne die ideelle Ebene, das heißt die Imaginäre, nur schwerlich in ihrem Verlauf nachvollzogen werden können.« Valerian Thielicke, Soziopolis, 23.01.2020
Leseprobe
1. Einleitung 'Öffnet die Türen den milden Seelen, vom Wahnsinn entflammt wartend [] GefängnisUnglück, GefängnisGefängnis Oh, wie viele Fremde haben den bitteren Geschmack gekannt die Steine der Mauern sind geschmolzen Und wir sind alle Gefängnisinsassen geworden [] Werft die Gefängnisse ins Gefängnis Die Rede wird sich befreien der Gesang der Überlebenden wird sich erheben Eine Sintflut wird kommen Die Rede ist fesselnd Eine Sintflut wird kommen.' Basset Ben Hassan, Öffnet die Türen, 10. Mai 2010, Tunis 'Präsident des Landes, heute spreche ich dich in meinem Namen und im Namen des Volkes an, das vom Gewicht der Ungerechtigkeit erdrückt wird. [] Es gibt Leute, die vor Hunger sterben, sie wollen arbeiten, um zu leben, aber ihre Stimme wird nicht gehört! [] Die Hälfte des Landes wird erniedrigt. Schau, was in dem Land passiert! [] Bis wann sollen die Tunesier in ihren Träumen leben? Wo ist die Meinungsfreiheit? Ich sehe sie nur auf dem Papier. [] Das Volk hat so viel zu sagen, aber seine Stimme trägt nicht.' Mit diesen Worten klagt der 22-jährige tunesische Rapper El General in seinem Lied Rais el bled (Präsident des Landes) Ben Ali zum 23. Jahrestag seiner Herrschaft im November 2010 an. Einen Monat später entfachen im Zuge der Selbstverbrennung des Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi die Proteste der tunesischen Bürger*innen in Sidi Bouzid. Sie verbreiten sich von dort aus in aller Eile über das ganze Land und inspirieren schließlich auch andere arabische und südeuropäische Bürger*innen, sich gegen politisch unterdrückende, entmündigende und ausbeuterische Verhältnisse zu erheben. Die Erzählungen und die Träume der tunesischen Bürger*innen, die unter der Diktatur Ben Alis, wie uns El General lehrt, kein Gehör finden, faszinierten mich von der Geburtsstunde des tunesischen Revolutionspro-zesses an. Sie schienen mir, den in den westeuropäischen und nordameri-kanischen Ländern dominanten Diskurs über die vermeintlich 'demokratie-unwilligen', apolitischen und fatalistischen Bürger*innen der arabischen Welten fundamental infrage zu stellen. Chimamanda Ngozi Adichie, nigerianische Schriftstellerin, warnt vor solchen stereotypisierenden Diskursen: 'So that is how to create a single story, show a people as one thing, as only one thing, over and over again, and that is what they become. [] The single story creates stereotypes, and the problem with stereotypes is not that they are untrue, but that they are incomplete. They make one story become the only story.' (Ngozi Adichie 2009) Von der Notwendigkeit vielfältiger Geschichten überzeugt, begebe ich mich auf die Suche nach den Erzählungen der tunesischen Bürger*innen. Während ich 2010 den Eindruck hatte, Zeugin eines wichtigen historischen Ereignisses zu werden, sahen viele wissenschaftliche und journalistische Beobachter*innen in den Ereignissen vor allem Hungerrevolten und spontane Unruhen oder befürchteten einen Sieg von Extremisten. Mich hingegen berührten die Demonstrant*innen in Sidi Bouzid, Kasserine, Thala und Tunis, die sich den Snipern und Panzern des Regimes entgegenstellten, um soziale Gerechtigkeit, Freiheitsrechte und politische Teilhabe zu fordern. Meine Neugier und mein Wille, zu verstehen, warum die Menschen in Tunesien revoltieren, war geweckt. Zu diesem Zeitpunkt beschäftigte ich mich intensiv mit radikalen Demokratietheorien. Radikale Demokratietheorien schienen mir besonders dafür geeignet, revolutionäre Momente zu erfassen. Schließlich betonen sie die agonale Verfasstheit des Politischen als Kraft der kollektiven Selbstinstituierung einer Gesellschaft. Der Ausgangspunkt demokratischer Praxis liegt demnach in Konflikt, Differenz und Dissens. Anstatt die politische Dimension des tunesischen Revolutionsprozesses ausgehend von den Theorien von Jacques Rancière, Claude Lefort, Etienne Balibar und Ernesto Laclau zu erfassen, entschied ich mich dazu, von der Empirie auszugehen und sie anschließend mit theoretischen Überlegungen zu kreuzen. Ich analysiere folglich den revolutionären Prozess vornehmlich mithilfe der empirischen Studie der Imaginäre, das heißt der politischen Ideen und gesellschaftlichen Vorstellungen, der Akteur*innen, die gegen das System von Ben Ali kämpften. Das Konzept des Imaginären erlaubt es mir, sowohl die ideell-narrative Dimension des Revolutionsprozesses zu erfassen als auch eine Klammer zwischen meinen empirischen und theoretischen Überlegungen zu denken. Die radikalen Demokratietheorien begleiten dennoch an vielen Stellen meine Reflexion und finden sich an vielen Stellen des Buches wieder. Diese Vorgehensweise wird meinem Untersuchungsgegenstand, dem tunesischen Revolutionsprozess, gerechter. 1.1 Untersuchungsgegenstand: Politische Ideen in der Praxis denken 'Was tue ich als Forscher? Ich wette auf die Gleichheit.' Jacques Rancière, Die Methode der Gleichheit, 2014 In diesem Buch analysiere ich, wie bereits erwähnt, den tunesischen Revolutionsprozess, indem ich mich mit den Imaginären der Akteur*innen auseinandersetze, die gegen das System von Ben Ali gekämpft haben und zum Ausbruch des revolutionären Prozesses beitrugen. Ich stütze mich dabei auf das vom griechisch-französischen Philosophen Cornelius Castoriadis entwickelte Konzept der Imaginäre. Der Begriff dient Castoriadis sowohl dazu, kollektive politische Vorstellungen, soziale Repräsentationen und gesellschaftliche Bedeutungen als Ausdruck sozialer Praxis zu benennen, als auch die durch die Vorstellungskraft begleitete, mögliche Überschreitung politischer Verhältnisse zu denken. Castoriadis weist anhand der Imaginäre auf die transformatorische Kraft von Gesellschaften hin (vgl. Castoriadis 1995: 70). Mit Castoriadis gehe ich davon aus, dass Imaginäre insbesondere in revolutionären Umbruchs- und Gründungsmomenten entstehen, in denen die Gesellschaft zentrale politische und gesellschaftliche Institutionen hinterfragt. Der Begriff vermag es folglich, dekonstruktive Prozesse der Infragestellung und konstruktive Prozesse der politischen Instituierung zu erfassen. Mein Zugang zum tunesischen Revolutionsprozess über die Imaginäre der Akteur*innen ist von zwei Denkern inspiriert, die meine Haltung nachhaltig prägen: Michel Foucault und seine Überlegungen zum Entstehen von politischen Ideen sowie Jacques Rancière und seine egalitäre Methode. Foucault faszinierte das Aufkommen der Iranischen Revolution. Er reiste nach Teheran, um das revolutionäre Treiben in seinen 'Ideenreportagen' für die italienische Tageszeitung Corriere della sera zu erfassen. Ihn bewegt 'die Frage, warum Menschen sich erheben und sagen: Es geht so nicht weiter' (Foucault 2003a [1979]: 936). Dabei nimmt er nicht die Position eines wissenden Intellektuellen ein. Vielmehr stürzt er sich in das iranische Geschehen und versucht ausgehend von seinem Enthusiasmus für die Revolution, die politischen Ideen der Revolutionär*innen zu erkennen und auf diese Weise dem 'revolutionären Enigma' nachzugehen. 'Es gilt, der Geburt von Ideen beizuwohnen und ihre explosive Kraft zu erleben, und dies nicht in den Büchern, in denen sie vorgestellt werden, sondern in den Ereignissen, in denen sich ihre Kraft zeigt, und in den Kämpfen, die für oder gegen sie geführt werden.' (Foucault 2003b [1978]: 886) Foucaults Beschäftigung mit der Verschränkung von politischen Ideen, die sich in sozialen und politischen Kämpfen konstituieren, und seiner philosophischen Theorie beschränkt sich nicht auf seine 'Ideenreportagen', sondern bestimmt sein philosophisches Denken. So stellt er in Überwachen und Strafen (1975) heraus, dass die Gefängnisinsassen eine eigene Theorie über das Gefängnis haben. Diese Vorstellung, dass sich die Erzeugung von Ideen und Theorien überall in der Gesellschaft vollziehen kann und nicht von außen an die Subjekte herangetragen muss, beeinflusste Jacques Rancière grundlegend (vgl. Rancière 2012: 73; Abbas 2019: 390). Von Foucaults kritischen Ausführungen zum Verhältnis von Wissen und Macht inspiriert, entwickelte er i...
Inhalt
Inhalt
1. Einleitung 11
1.1 Untersuchungsgegenstand: Politische Ideen in der Praxis denken 13
1.2 Vorgehen, Fragestellung und Hypothese 16
1.3 Empirisch Forschen in revolutionären Zeiten 20
1.4 Forschungsstand 25
1.4.1 Frühling oder Revolution? 28
1.4.2 Der tunesische Revolutionsprozess zwischen einer eurozentrischen und einer arabischen Geschichtsschreibung 30
1.4.3 Die Angst vor Islamismus oder Orientalismus reloaded 34
1.4.4 Die »autoritäre Ausnahme« oder die fünfte Welle der Demokratisierung 36
1.4.5 Die Analyse sozialer Faktoren 38
1.4.6 Warum diese Interpretationen nicht erschöpfend sind 43
1.5 Aufbau des Buches 44
Teil I: Begriffe und Kontext
2. Das Imaginäre und die Revolution – eine theoretische Annäherung 51
2.1 Was ist eine Revolution? 51
2.1.1 Revolution – von der Rotation über die Restauration zum Neuanfang 52
2.1.2 Von der Schwierigkeit, Beobachterin gegenwärtiger Revolutionen zu sein 56
2.1.3 Revolution – ein gewaltvolles Phänomen? 62
2.1.4 Wer ist das Subjekt von Revolution? 70
2.1.5 Revolution zwischen historischer Notwendigkeit und Freiheit 74
2.1.6 Die Leerstelle der Revolutionsforschung: Imaginäre und Narration 78
2.2 Das Imaginäre bei Castoriadis 80
2.2.1 Die Bedeutung der Imagination für das Subjekt 83
2.2.2 Die Rolle der imaginären gesellschaftlichen Bedeutungen in der Gesellschaft 88
2.2.3 Imaginäre, Geschichte und Revolution 95
2.2.4 Die Imaginäre revisité 102
3. Die Staatsnarrative unter Bourguiba und Ben Ali 109
3.1 Das Gründungsnarrativ der (autoritären) Moderne 110
3.2 Die (kurzlebige) Demokratisierung 115
3.2.1 Eine unwirksame Opposition 120
3.2.2 Eine unterwanderte Gewerkschaft 126
3.2.3 Eine zum Schweigen gebrachte Zivilgesellschaft 130
3.3 Der (paternalistische) Staatsfeminismus 138
3.3.1 Die rechtliche und ideelle Grundlage 138
3.3.2 Die Instrumentalisierung des Staatsfeminismus 141
3.4 Der vernunftgeleitete Islam 143
3.4.1 Das säkular-religiöse Fundament der Stabilität des Staates 143
3.4.2 Der moderne Islam zwischen politischer Verfolgung und staatlicher Bemächtigung 146
3.5 Im Schatten des Wirtschaftswunders 150
3.5.1 Die Liberalisierung ohne Liberalismus 154
3.5.2 Arbeitslosigkeit und Korruption 158
3.5.3 Ein Land am Rande der sozialen Explosion (Gafsa) 164
3.6 Von den Staatsnarrativen zur tunesischen Identität 167
Teil II: Kartografie der tunesischen Imaginäre
4. Wann entstehen die tunesischen Imaginäre? 171
4.1 Wenn das Regime stürzt 172
4.1.1 Von der Schwierigkeit, jenseits der Diktatur zu denken 172
4.1.2 Wenn die revolutionäre Erfahrung den imaginären Erwartungshorizont öffnet 179
4.2 Wenn die Angst vor dem Regime überwunden wird 183
4.2.1 Von der Angst, über Politik zu sprechen 185
4.2.2 Von der politischen Instrumentalisierung der Angst 187
4.2.3 Das Paradox der Überwindung der Angst 192
4.3 Wenn das Internet sich zur Stätte des Widerstandes
entwickelt 203
4.3.1 Die Suche nach geschützten Räumen des Politischen 203
4.3.2 Das Internet als Raum der Politisierung 205
4.3.3 Das Internet als Raum einer realitätsnahen Berichterstattung 211
4.3.4 Das Internet als generationsspezifischer Raum politischer Vernetzung 215
4.3.5 Wenn das Internet als Raum politischer Satire die Angst entschärft 220
4.4 Die Befreiung der Imaginäre 222
5. Talking about revolution 226
5.1 Die »Revolution der Würde und der Freiheit« 227
5.1.1 Menschliche Würde als Recht auf ein Leben ohne willkürliche Gewalt 230
5.1.2 Bürgerliche Würde als Recht auf politische Teilhabe 232
5.1.3 Nationale Würde zwischen Kritik am internationalen Kapitalismus und an sozialer Ungleichheit 233
5.1.4 Religiöse Würde als Religionsfreiheit 241
5.1.5 Das Verhältnis von Würde und Freiheit 243
5.1.6 Die »Revolution der Würde« als Vollendung der Dekolonialisierung? 249
5.1.7 Würde als »leerer Signifikant« 252
5.2 Die leader-lose Revolution 254
5.2.1 Die Laudatio der Horizontalität und der Selbstregierung 256
5.2.2 Das Oxymoron der leader-losen Revolution 277
5.3 Die Historizität der Revolution 282
5.3.1 Die Revolution als langjähriger Prozess 283
5.3.2 Die Revolution zwischen historischem Bruch und
Kontinuität 292
5.4 Die Revolution zwischen Nahḍa und ṯawra? 299
5.5 Was fehlt, um von einer Revolution zu sprechen? 301
5.5.1 Der vollendete Sturz des alten Regimes und seiner Institutionen 302
5.5.2 Die Absage an neoliberale Wirtschaftspolitiken 303
5.5.3 Die transitionelle Gerechtigkeit 306
6. Talking about democracy 313
6.1 Die »Provinzialisierung Europas« oder das Ende der europäischen Hegemonie 314
6.1.1 Europa als kolonialisierende und diskriminierende Macht 314
6.1.2 Europa als Symbol eines unzureichenden Demokratiemodells 315
6.1.3 Das tunesische Streben nach Demokratie – jenseits von Eurozentrismus und radikaler Alterität 320
6.2 Demokratie als politische Selbstverwaltungsordnung 322
6.2.1 Südamerika als Sehnsuchtsort der tunesischen Revolution oder die partizipative Demokratie 322
6.2.2 Demokratische Selbstverwaltung zwischen direkter Demokratie, Föderalismus und Anarchie 331
6.2.3 Auf der Suche nach neuen Utopien 335
6.3 Die islamische Demokratie 337
6.3.1 Von der Iranischen Revolution zur Demokratie 339
6.3.2 Die Prinzipien einer islamischen Demokratie 343
6.3.3 Die islamische Demokratie zwischen islamischen Wurzeln und europäischen Institutionen 352
6.3.4 Welches Vorbild für eine »islamische Demokratie«? 357
6.3.5 Freiheit als Nichtbeherrschung oder als Praxis der Selbstregierung? 359
7. Talking about feminism 364
7.1 Die demokratische und rechtsstaatliche Kritik am autoritären Staatsfeminismus 366
7.2 Feministisches Rechtslobbying 371
7.3 Feministische Auseinandersetzungen um Gleichheit oder Komplementarität der Geschlechter 375
7.4 Exkurs: Gibt es einen islamisch inspirierten »Feminismus« in Tunesien? 384
7.5 Von der »befreiten Frau« zur Befreierin der Gesellschaft? 390
8. Schluss 395
8.1 Die Imaginäre als Gegenentwürfe zu den Staatsnarrativen 396
8.2 Die Imaginäre als Maßstab zur Beurteilung der neuen Verfassung 400
8.3 Das neue Staatsnarrativ der demokratischen Transition 406
8.4 Das Imaginäre und die Revolution 407
8.5 Die empirische Studie der Imaginäre als Reflexionsgrundlage
für den Begriff des Imaginären 412
Danksagung 415
Anhang
Abkürzungen 418
Chronologie 421
Interviewliste 437
Literatur 441
Textkorpus 441
Literatur 445