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Drei Mal Stunde Null?

eBook - 1949 - 1969 - 1989

Erschienen am 24.04.2002, 1. Auflage 2002
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783894807566
Sprache: Deutsch
Umfang: 224 S., 0.84 MB
E-Book
Format: EPUB
DRM: Digitales Wasserzeichen

Beschreibung

1949 entstanden aus dem Deutschen Reich zwei Republiken. Der tiefste Einschnitt in unserer Geschichte führte uns hart an eine Stunde Null. Für vier Jahrzehnte war die Teilung Deutschlands und Europas besiegelt. Der Autor schildert aus eigenen Begegnungen die führenden Persönlichkeiten. Eingehend untersucht er Kontinuitäten und neue Anfänge im politischen Personal, in der Verfassung und in den Institutionen von Staat und Gesellschaft und setzt sich mit dem Vorwurf des restaurativen Charakters auseinander.Mit 1969, dem ersten Jahr eines sozialdemokratischen Kanzlers, verbindet der Autor die Frage nach einem Neubeginn im Inneren. Die neue Ostpolitik war eine zweite tiefe Zäsur der Nachkriegsgeschichte. Es ging um Entspannung zwischen Ost und West unter deutscher Anleitung. Richard von Weizsäcker gehörte zur verschwindenden Minderheit seiner Partei, der damaligen Opposition, die diesen Kurs nachhaltig unterstützte. Sein Herzensanliegen war von jeher die Aussöhnung mit Polen. 1989 kam der Kalte Krieg zu seinem Ende. Als erstes Staatsoberhaupt des geeinten Deutschland hat Richard von Weizsäcker diesen fundamentalen Neubeginn mitgestaltet. Erneut analysiert der Autor Kontinuität und neuen Anfang, Erfolge, Gefahren und Versäumnisse des Einigungsprozesses. Wo es ihm erforderlich schien, hat er Differenzen mit der damaligen Regierung unter Helmut Kohl nicht gescheut. Er bewertet die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die Arbeit der Institutionen unserer Verfassung, die Dominanz der politischen Parteien und die Leistungen und Fehlleistungen im Machtkampf der demokratischen Politiker. Das Ziel ist die Vollendung ganz Europas ohne das bisher alleinige Präfix »West«. So gibt er Antworten auf die dreifache Frage nach der Stunde Null und nach den Kontinuitäten in der geistigen und politischen deutschen Geschichte unserer Zeit.

Autorenportrait

Richard von Weizsäcker wurde 1920 in Stuttgart geboren. Nach einer erfolgreichen Karriere in der Industrie war er von 1981 - 1984 Regierender Bürgermeister von Berlin und von 1988 - 1994 Präsident der Bundesrepublik Deutschland. Er war der deutsche Bundespräsident, der das höchste Maß an Popularität in der Bevölkerung und auch innerhalb der politischen Elite genoß. Seine früheren Bücher "Von Deutschland aus", "Die deutsche Geschichte geht weiter" und "Von Deutschland nach Europa" erschienen im Siedler Verlag und erreichten Hunderttausende von Exemplaren. Seine Memoiren "Vier Zeiten" sind in die Geschichte der Familie eingebettet, an der exemplarisch der Weg vom Kaiserreich über die Republik von Weimar und das Dritte Reich bis zum Neuanfang nach dem Krieg ablesbar ist.

Leseprobe

Die Null wurde im fünften Jahrhundert durch Inder eingeführt. Sie wanderte weiter nach China, später nach Arabien. Von dort erreichte sie uns Europäer im Mittelalter. Wir verwenden sie auf vielfache Weise, in der Mathematik, als Normal-Null zur Höhenmessung, in der Thermometerskala als Nullpunkt, für Nullsummen-Spiele oder gar im übertragenen Sinn für ein Herzensthermometer, das auf Null stehen kann.
Religionen und traditionsempfindende Gesellschaften beschäftigen sich mit der Herkunft von Mensch und Welt. Ursprungserzählungen finden sich bei den indischen Upanischaden, im Gilgamesch-Epos, in Schöpfungs- und Paradiesschilderungen. Offenbarungsreligionen haben und hüten einen Beginn. Das gilt für die vedische und die Zarathustra-Religion, ist so im Judentum, auch im Christentum und im Islam. Die Null markiert den Anbruch eines neuen Zeitalters mit seinem Ursprung von Glaube und Lehre, vielleicht auch von Ordnung und Herrschaft.
Vom Umgang der Wissenschaften mit den Ursprüngen sei hier nicht die Rede, sondern von der politischen Geschichte. Dort stoßen wir mit höchst unterschiedlichen, ja entgegengesetzten Empfindungen auf die Null. Sie kann das Gefühl eines unwiderruflichen Zusammenbruchs ausdrücken, ein Verlangen nach vollkommenem Auslöschen erlebter Geschehnisse. Oder es ist die Gewissheit eines neuen Anfangs. Revolutionen markieren mit Vorliebe den Anbruch eines neuen Zeitalters durch eine eigene Zeitrechnung. Im Zuge der Französischen Revolution galt 1792 als das Jahr Eins. Am ersten Abend der Pariser Julirevolution 1830 wurde - Walter Benjamin hat daran erinnert - auf die Turmuhren geschossen: ein Stopp-Befehl an die alte Zeit, ein neuer Beginn bei Null. Schon zuvor hatte die amerikanische Revolution auf die Vergilsche Formel von der neuen Ordnung der Zeitalter, dem novus ordo saeculorum, zurückgegriffen, mit der die Regierung des Augustus gefeiert wurde.
Immer wieder ist von einer Stunde Null die Rede, weil sie von uns Menschen im Leben und Zusammenleben so empfunden wird. Es kann so tiefe Abstürze oder einen so radikal neuen Anfang geben, dass wir keine Orientierung vorfinden oder dass wir sie neu schaffen müssen und wollen.
Dennoch hat jede Geschichte ihre Vorgeschichte. Im historischen Sinne gibt es nichts dem religiös geglaubten oder dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Nullpunkt Vergleichbares. Alle Gegenwart folgt aus einer Vergangenheit. Darüber gibt es keinen Streit. Zur Debatte steht aber das Maß an Abbruch oder Kontinuität.
Generationenfolge ist zunächst Kontinuität. Leben wird gegeben, Erfahrung angeboten. Für eine zivilisatorische Entwicklung ist dies lebensnotwendig. Allen Rückschlägen zum Trotz ringen wir uns vorwärts von der Wolfsnatur zu Friedensregeln, von mauerbefestigten zu offenen Städten. Es gibt tragende, positive, entwicklungsoffene Kontinuitäten, aber auch niederziehende, stickige, reaktionäre oder restaurative.
Für eine neue Generation beginnt die Welt zunächst von vorn. Sie will kein Austauschmotor in einem vorfabrizierten Gehäuse sein. Es sind ihre eigenen Grundstimmungen, ihre Probleme, ihre Zeitgenossenschaft, die sie steuern werden. Gleichwohl wird sie der Kontinuitäten gewahr werden, die sie vielleicht als bewahrenswert zu empfinden lernt oder die sie verändern und abbrechen will. Sie kann selbst spüren, dass Erinnerung ausschlaggebend für sie ist: Ich war schon vor mir da, also bin ich. Dabei wird sie entdecken können, dass ihre heutigen Herausforderungen und Chancen auf wundersamen, einst unvorstellbaren Entwicklungen beruhen.
So ist es mir selbst in einem langen Leben ergangen. Was ich hier berichte, sind keine Ergebnisse wissenschaftlicher Quellenforschung. Ich bin kein Historiker, sondern Politiker. Vielmehr beschreibe ich die Entwicklungen so, wie ich sie als Zeitgenosse unmittelbar erlebt habe. Es waren für uns alle und auch für mich ganz unterschiedliche Lebensabschnitte. 1949 war ich beim Abschluss meiner Berufsausbildung als junger Strafverteidiger tätig. 1969 war ich frisc tiefgreifenden Wendepunkten und dem Verlauf des Weges vom ersten über den zweiten bis zum dritten ist der nachfolgende Gedankengang gewidmet.

Je stärker die Wucht der Veränderungen wirkt, desto lebhafter wird über den historischen Nullpunkt debattiert. So erlebte man es in Deutschland schon am Übergang vom Kaiserreich zur Weimarer Republik. Doch erst am Ende des Zweiten Weltkriegs rückte der Nullpunkt in das Zentrum der Empfindungen. Alfred Weber nahm »Abschied von der bisherigen Geschichte«. Alexander Mitscherlich verstand die Ereignisse als die »größte materielle und moralische Katastrophe unserer Geschichte«. In der deutschen Literatur wurde die Stunde Null zur alles beherrschenden Mitte, und sie blieb es noch Jahrzehnte. Sie hat das Werk von Wolfgang Koeppen und Heinrich Böll nicht weniger geprägt als Uwe Johnsons »Jahrestage« und Christa Wolfs »Kindheitsmuster«.
Selbstverständlich ist das Thema unseren Historikern wohl vertraut, und sie leisten dazu immer neue erhellende Beiträge. Denn wie einem Menschen für sein Leben und Zusammenleben ein verständiges Selbstbewusstsein und eine vernünftige Selbstsicherheit hilft, so braucht dies auch eine Staatsnation für ihre verantwortliche Existenz. Dazu bedarf es eines begründeten Urteils über die politische und geistige Bedeutung von Abbruch und Neubeginn, von Nullpunkt und Kontinuität.
Die Auseinandersetzung über diese Frage bleibt notwendig und fruchtbar, da wir immer wieder die Erfahrung machen, wie sehr sich die Urteile unter dem Einfluss neuer politischer Entwicklungen verändern können. So hat beispielsweise kaum ein Autor die Ereignisse des Jahres 1989 wirklich vorhergesehen und in ihren Folgen zutreffend einzuschätzen vermocht. Nun sprossen kühne Analysen aus dem Boden. Auf seine Weise schoss der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama den Vogel ab. Er verkündete, als der Kalte Krieg verebbte, das »Ende der Geschichte«. Er meinte den Zusammenbruch kommunistischer Diktaturen und die erfolgreiche Ankunft der Welt bei den liberalen, zumal den amerikanischen Zielen für die Geschichte der Menschheit.
Der große Umbruch des Jahres 1989 führte nicht nur neue Zukunftsperspektiven herbei. Er brachte auch im Rückblick Revisionen von allerlei herkömmlichen Meinungen und von alten Bewertungen früherer Wenden hervor. Es sind weniger die Historiker als die Politiker, die sich darin hervortun. Immer wieder wird die Deutung der Vergangenheit zum Politikum. Einerseits können Politiker nur selten der Versuchung widerstehen, im Lichte ihrer gegenwärtigen Ziele die Geschichte neu zu interpretieren und somit als Instrumente im Kampf um die heutige politische Meinungshoheit zu nutzen. Nicht viel besser ist es, wenn sie lieb gewordene, bewährte Argumente aus der Geschichte auch dann noch am Leben erhalten, wenn sich inzwischen die Zeit tatsächlich verändert hat. Wie dem auch sei, mit oder ohne besondere Absichten lohnt es, angesichts frischer Herausforderungen sich an der Vergangenheit zu messen. Gerade dabei bleiben die Fragen nach Nullpunkten, Kontinuitäten und Neubeginn aktuell.

Zum Charakteristikum Deutschlands gehört seine im europäischen Vergleich noch immer junge Lebensdauer als politischer Staat. Es sind erst einhundertdreißig Jahre. In dieser historisch knappen Zeitspanne zeigt sich ein zweites hervorstechendes deutsches Merkmal: In kurzen geschichtlichen Abständen kam es zu grundstürzenden Brüchen, zu Wenden und neuem Beginn. Blieb es jeweils überhaupt dasselbe Deutschland, gemessen an seiner durch einschneidende Gebietsverschiebungen geprägten geographischen Lage, an einer schwankenden Orientierung in der Mitte des Kontinents, nach Osten oder nach Westen oder eben auf einem deutschen Sonderweg, seinen wechselnden Staatsformen, seinen neuen Institutionen, seinen sich wandelnden Herrschaftsschichten, seiner Entwicklung zu einer Bürgergesellschaft? In seiner binnenkontinentalen Lage, umgeben von mehr Nachbarn als alle anderen Länder, hatte es stets einen prägenden Anteil an der europäischen Ge

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