Beschreibung
Wer in mehreren sozialen Welten lebt, entwickelt auch mehrere konkurrierende Ichs. Unter dieser Prämisse werden in der vorliegenden Studie die Wechselbeziehungen zwischen jüdischen, deutschen und französischen Identitäten beim jungen Heine untersucht. Ausgehend von seinem jüdischen Familienerbe wird zunächst die Entwicklung Heines unter Napoleon und in der frühen Restaurationszeit dargestellt. Einen zweiten Schwerpunkt bildet Heines Auseinandersetzung mit dem Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden, die ihn dazu veranlasst, in Über Polen und im Rabbi von Bacherach eine Identität als deutsch-jüdischer Dichter zu erproben. Schließlich wird gezeigt, dass hinter der provokanten Parteinahme für das revolutionäre Erbe Frankreichs und Napoleon in Reisebilder II Heines jüdisches Ich steht, das Wiedergutmachung für die Demütigung einfordert, die es durch die Taufe erlitten hat.
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Autorenportrait
Jan Scheithauer studierte Neuere Deutsche Literatur, Theaterwissenschaft und Philosophie in Berlin und Paris und wurde 2013 an der Freien Universität Berlin mit der vorliegenden Untersuchung promoviert.
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Inhalt
Einleitung
Kapitel Eins
Aufwachsen mit drei Kulturen
1.1. Zwischen Hybridität und Entfremdung: Jüdische und nicht-jüdische Kultur in Heines Familie
1.1.1. Deutscher „Herzens-Raum“, jüdische Familienbande
I. Betty Heines Jugendbriefe: Deutschland als „Herzensraum“
II. Europäische Familiennetzwerke
1.1.2. Heines Hofjudenerbe und sein widersprüchlicher Bildungsgang
I. Akkulturationsleistungen der hofjüdischen Vorfahren Heines
II. Bildungsoffensiven gegen den wirtschaftlichen Niedergang
III. Die Spannungen zwischen mütterlichen und väterlichen Berufsplänen
1.1.3. Abstoßende Impulse: Die jüdische Gemeinde in Düsseldorf
I. Jüdisches Leben in Düsseldorf um 1800
II. Der Streit um die Geleitrechte
III. Religiöse Anomie
1.2. 1806: Beginn einer lebenslangen Frankreich-Freundschaft?
1.2.1. Die schwierige Loslösung vom alten Kurfürsten
I. Kurfürstliches Paradies – revolutionäre Verdammung
II. Die Bindung der van Geldern an die Pfälzer Kurfürsten
III. Die Übergangsphase: 1806-1808
1.2.2. Der junge Heine: Ein revolutionärer Bonapartist?
I. Die schrittweise Emanzipation im Großherzogtum Berg
II. Ein Artikel von Heines Onkel Simon van Geldern?
III. Heines frühe Napoleonverehrung im Kontext der „alliance royale“ und der „monarchie chrétienne“
IV. Napoleonverehrung im schulischen Sozialisationskontext
1.2.3. Erste Schatten: Die Wirtschaftskrise in Berg
1.3. Deutscher Minnesänger – „ganz isolirt“?
1.3.1. Die Pose des Befreiungskriegers (1815)
I. Frankophober Nationalismus – von Preußen verordnet
II. Dichtung und Anerkennungsdefizite
III. Deutschland: Anpassung mit einem Anflug intellektueller Selbstbehauptung
1.3.2. Anerkennungsdefizite: Der „deutsche Sänger“ in Hamburg
1.3.3. Dichter in Bonn (1819-20): Bestätigung und Neuorientierung
I. Neuorientierung
II. Die Konsekration durch A.W. Schlegel und ihre Folgen
1.3.4. Erlebte Judenfeindschaft nach 1815
I. Horizonterweiterung im Frankfurter Judenghetto
II. Die Hep-Hep-Krawalle: Anschlag auf die kulturelle Integration
III. Burschenschaft: „aus dem Sumpfe der Nazionalselbstsucht“ zur universellen Philanthropie
1.4. Zusammenfassung
Kapitel Zwei
Ein produktives Missverständnis: Heine und der Kulturverein
2.1. Heines Beitritt zum Kulturverein und die Preußenkritik in Über Polen
I. Die deutsche Misere im polnischen Spiegel
II. „…im russischen Polen werden auch die Juden zu allen Staatsämtern zugelassen…“: Die Lex Gans und Heines Vereinsbeitritt
2.2. Die „wissenschaftliche“ Reform von Juden und Polen
I. Aufgehen ist nicht untergehen
II. Das wissenschaftliche Reformprogramm des Kulturvereins
III. Heines „Wissenschaft der Polen“ – mit literarischem Korrektiv
2.3. Deutsche und polnische Juden: „nicht in eine Cathegorie zu bringen“?
I. „…eine ganz andere Bildungsstufe“: Der Kulturverein und die polnischen Juden
II. Historische Kontextualisierung versus David Friedländers Rabbiner-Kritik
III. Zwanghaftes Bildungsstreben: ein deutsch-polnisches Vexierbild
IV. Das polnische Judentum als Regenerationsquelle für reformgeschädigte Deutsche
2.4. Der Rabbi von Bacherach: Der „große Judenschmerz“ und die europäische Kultur
I. Tränenreiche Geschichte zur Revitalisierung: „Sie fließen und ergießen / Sich all’ in den Jordan hinein“
II. Die Flucht des Rabbi und die verhinderte west-östliche Synthese des deutschen Judentums
III. Die Reduktion des europäischen Projekts auf die deutsche Misere
IV. Rehabilitierung und Modernisierung des jüdischen Messianismus
2.5. Zusammenfassung
Kapitel Drei
Von der Taufe zur Frankreich- und Napoleonverehrung in Reisebilder II
3.1. Die Taufe: Bekenntnistat oder Demütigung?
I. Heines Taufe: Quellen und Ablauf
II. Bekenntnis zum „denkgläubigen Flügel des Protestantismus“…
III. … oder pragmatische Taufscheinbeschaffung?
IV. Geheim, schnell und schmerzlos: die Taufe im Eilverfahren
V. Unverhoffte Demütigung oder Grimm als Handlanger des christlichen Staates
VI. Konklusion
3.2. Negation der Taufe in Reisebilder II
I. Neue Vorsätze und alte Skrupel
II. Rebellion gegen teuflisches Unrecht
III. Gans und Heine: Konversionen im Land der Narren
3.3. „Sohn der Revoluzion“ mit Hühneraugen: Konstruktion einer französisch-jüdischen Identität
I. Die Revolutionslehren Le Grands versus sterile Schulbildung
II. Die „Connaissance par corps“ der Revolutionslehre oder: der schlafende Krieger
III. Angeborene Talente und Brahmas Hühneraugen
IV. Die Berliner Universitätsszene: Trommelnde, stumme Füße
3.4. Gegen Beers Paria: Selbstbestimmung und jüdisches Schicksal
I. Der Paria: „ein verkappter Jude“
II. Indische Exotik und jüdische Alterität
III. Körperliche und seelische Ahnen
IV. Der trommelnde Paria
3.5. „Napoleon“ als Chiffre für die jüdischen Leiden und Erlösung
I. Revolutionäres Trommeln gegen die anti-napoleonischen Agitatoren
II. Heines „Napoleon“ und Gans’ „Begriff des heutigen Europas“
III. Die Leidensgeschichte des exilierten Kaisers und der Psalm 137
IV. Heines Napoleonkult und die Furcht vor der „Unmündigkeit“ des Volkes
Konklusion
Literaturverzeichnis