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Kanienkespatt

Niederdeutsche Laborgedichte

Kremer, Ludger
Erschienen am 19.09.2024
10,80 €
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783933377562
Umfang: 128
Format (T/L/B): 20.0 x 13.0 cm

Beschreibung

Alfons Schenke (1940-2001) gehört zu jener relativ kleinen Gruppe niederdeutscher Schriftsteller, die bewusst den Anschluss an Entwicklungen in der „hochsprachlichen“ Literatur gesucht haben, die sich an avantgardistischer Lyrik versucht, das Klischee von der „volkstümlichen und lustigen“ Heimatdichtung überwunden und über das moderne Medium Hörfunk dem einstmals quotenstarken niederdeutschen Hörspiel zu einer erstaunlichen zeitweiligen Blühte verholfen haben. Damit steht er in einer Reihe mit anderen „modernen“ westfälisch-plattdeutschen Autoren wie Siegfried Kessemeier, Norbert Johannimloh, Peter Kuhweide, Ottilie Baranowski, Albert Rüschenschmidt, Alois Terbille und Georg Bühren – allerdings mit dem Unterschied, dass Schenke als Lyriker bereits nach wenigen Jahren verstummte und als Hörspielautor ebenfalls seit den 1990er Jahren schwieg, vielleicht entmutigt durch den rapiden Rückgang des Hörfunks und die Zurückdrängung plattdeutscher Sendeanteile in den Rundfunkanstalten, insbesondere im WDR. Ihm ist auch – anders als den oben genannten Autoren – eine Anerkennung in Form von Literaturpreisen versagt geblieben; vielleicht war in den 1960er Jahren die Zeit für seine Art zu schreiben noch nicht reif. Dennoch, seine Texte sind auch heute noch interessant genug, in Erinnerung gerufen zu werden. Ein neuerlicher Versuch, Anschluss an die lyrische Moderne jenseits aller heimatverbundenen Dichtung zu finden, wurde von niederdeutschen Lyrikern erst seit Beginn der 1960er Jahre unternommen. Diese Versuche, im nordniedersächsischen Raum getragen von Hinrich Kruse, Dieter Bellmann, Greta Schoon, Oswald Andrae u.a., weisen mit den oben bereits genannten Autoren erstmals den westfälischen Raum als schrittmachende Landschaft in der niederdeutschen Literatur aus. Ihr Bemühen um neue Inhalte und Formen plattdeutscher Lyrik erwachsen einerseits aus dem Streben nach Anschluss an die lyrische Moderne, andererseits aus der sogenannten „Neuen Dialektliteratur“ des bairisch-alemannischen Sprachraumes. Zwei Westmünsterländer Autoren sind diesen neueren lyrischen Bestrebungen zuzurechnen: Neben dem Vredener Aloys Terbille (1936-2009) auch der aus Heiden stammende Alfons Schenke. Beide standen unter dem Einfluss des Münsterländers Norbert Johannimloh, beide wohl auch unter dem der modernen hochdeutschen Lyrik mit Autoren wie Paul Celan, Hans Magnus Enzensberger oder Helmut Heissenbüttel. Alfons Schenke hielt über seine Sicht des Verhältnisses von moderner zu traditioneller niederdeutscher sowie von niederdeutscher zu hochdeutscher Lyrik 1966 einen bemerkenswerten Vortrag [Niederdeutsche Lyrik heute. In: Weerwoord 2 (1966), S. 36-44], aus dem folgende aufschlussreiche Sätze stammen: „Platt ist die Sprache des Hausgebrauchs und hört bereits im Alter von sechs Jahren auf, in irgendein geistiges Training einbezogen zu werden. Daraus ergibt sich ganz natürlich, daß Plattdeutsch zur Verkümmerung gezwungen wird. [...] So kommt es, daß der niederdeutsche Autor sozusagen einen ‘automatischen Blick’ in die hochdeutsche Lyrik erhält – und damit in die Gegenwartslyrik überhaupt. [...]. Dabei ergab sich eine Übernahme moderner Technik fast nebenbei. So etwa das Zurücktreten der Reimbedeutung oder die Kontraktion der Bilder, seien sie räumlich, zeitlich oder metaphorisch gemeint“. Typisch für heutige Lyrik sei, dass sie mit traditioneller Erlebnisdichtung – etwa von Goethe: „Ich ging imWalde so für mich hin, und nichts zu suchen, das war mein Sinn …“ – nichts mehr gemein habe. Heutige Lyrik habe als „Labordichtung“ imWesentlichen mit Konstruktion und Technik, mit Experimentieren, Chiffrieren und Verfremden von Sprache zu tun und erwarte vom Leser einen Akt der Dechiffrierung. Dadurch müsse die Distanz des Gedichtes zu den Dingen und die Aufzählung nüchtern registrierter Fakten überwunden werden. Die Besonderheit des Niederdeutschen liege dabei zunächst einmal in der Tatsache, dass es durch die Zweisprachigkeit Niederdeutschlands und die dadurch bedingte Dialektnivellierung, d.h. durch den Einfluss des Hochdeutschen, in seinen Ausdrucksmöglichkeiten eingeschränkt worden sei. Daher, so kann man wohl hinzufügen, die Fokussierung Schenkes auf Naturbilder, die sich dem alltäglichen Sprachgebrauch nicht so leicht entziehen, allerdings selbst in der Alltagssprache „[...] ‘n kum beschriewbaor Blatt“ bleiben, wie es in dem Gedicht Tofroerne Bäcke heißt. Zum anderen weist Schenke darauf hin, dass der Dialekt, bedingt durch seine Kleinräumigkeit, in den Eigenheiten der engeren Heimat lebt, wodurch er sich als poetisches Medium wesentlich von hochdeutscher Lyrik abhebt: „[…] der Resonanzboden niederdeutscher Lyrik bleibt die Heimat oder ihrWesen. Sie wird plattdeutsche Gedichte immer näher aneinander rücken, als es bei hochdeutschen Gedichten oder Gedichten in einer Hochsprache allgemein der Fall sein kann. Darin scheint mir innere Tradition niederdeutscher Lyrik offenkundig zu werden, und sie ist wichtiger als formale.“ Schenkes Gedichte weisen Kennzeichen moderner Lyrik wie Verfremdung und Abweichungen von der alltagssprachlichen Syntax auf, sie sind nicht so sehr auf Kommunikation mit dem Leser, als vielmehr auf subjektive Äußerungen des Autors angelegt. Aber weil die Lyrik sich besonders auf die sprachliche Form konzentriert, ist sie enger als andere Textsorten an die Rahmenbedingungen ihrer Sprache gebunden, und bei Alfons Schenke ist das sein Heidener Platt. Gedichte wie Tofroorne Becke oder Geetlinge lassen die Suche nach dem richtigen Wort, das Verkürzen auf dasWesentliche, dasWeglassen alles Überflüssigen besonders deutlich hervortreten. Alfons Schenke hat sich seit den 1970er Jahren offenbar von der Lyrik abgewandt und eine andere literarische Gattung stärker gepflegt: das plattdeutsche Hörspiel. Hörspiele leben – anders als Lyrik – vom gesprochenenWort, sie sind ja nicht als Lese-, sondern als Hörtext konzipiert und damit von vornherein auch einem Publikum zugänglich, das sich dem gedrucktenWort verweigert. Geschriebenes Niederdeutsch erschließt sich dem ungeübten, am Hochdeutschen orientierten Leser oft nur mühsam, das niederdeutsche Hörspiel dagegen ist dem Zuhörer unmittelbar zugänglich, er ist direkt einbezogen. Ein Hörspiel ist aber kein Schauspiel mit beschränkten Mitteln, seine Sprache ist nicht dramatisch und räumlich distanziert, wie im Theater, und auch nicht episch und zeitlich distanziert, wie in der Erzählung. Die Sprache des Hörspiels ist lyrisch, wie die des Gedichts, weil der Zuhörer demWort direkt ausgesetzt ist und das Hörspielgeschehen nur durch dasWort lebt, in unmittelbarer Gegenwart, und seine Figuren erst dadurch entstehen, dass sie dasWort ergreifen. Insofern mag es besonders für einen Lyriker naheliegen, sich als Hörspielautor zu versuchen. Schenkes Hinwendung zum Hörspiel ist daher wohl auch weniger als Bruch mit einem nicht sehr nachgefragten Genre, also moderner Lyrik, zu sehen, sondern eher als folgerichtiger Schritt in eine naheliegende Richtung – aber natürlich auch, weil das Hörspiel innerhalb der literarischen Möglichkeiten des Niederdeutschen der Rahmen ist, in dem anspruchsvolle Texte am ehesten zur Geltung kommen können. Sie geschah zudem in einer Zeit, als die öffentlichen Rundfunkanstalten besonders diese Gattung pflegten und sich um neue Autoren bemühten, die bereit waren, sich modernen Themen und Elementen zu öffnen, indem sie sich von der traditionellen Annäherung des Hörspiels an das Drama befreiten und eine „Annäherung an das lyrische Hörspiel der Hochsprachen“ versuchten. Schenkes Hörspieltexte wurden für die Sendungen von NDR/Radio Bremen in eine nordniedersächsische Ausgleichsform, das sogenannte „Funkplatt“, übertragen, und für den WDR in eine münsterländische Fassung (sogenanntes „Kleiplatt“) – sie erscheinen einem westmünsterländischen Hörer oder Leser daher ein wenig fremd. Zwischen 1967 und 1991 wurden fast 30 von ihm verfasste Hörspiele gesendet, darunter zwei hochdeutsche und drei sowohl in nordniedersächsischer als auch in münsterländischer Fassung. Der „grüblerische“ Alfons Schenke, wie Ulf Bichel ihn nannte, behandelt in seinen Hörspielen vor allem sozialkritische Themen, zwischenmenschliche Probleme im Leben „normaler“ Personen, den Konflikt Einzelner mit der Gesellschaft, Alltagsprobleme eben: die Kontaktsuche per Heiratsanzeige, Probleme von Häuslebauern, ungewollte Schwangerschaft, berufliche und persönliche Interessenkollisionen, die Widersprüche zwischen dem Bild eines Menschen in der Öffentlichkeit und der privaten Realität mit den eigentlichen Motiven seines Handelns, Probleme des „Generationenvertrags“ und die Abschiebung alter Menschen ins Altenheim, menschliche Schwächen angesichts materieller Verlockungen, Selbstverwirklichung auf Kosten anderer, und dergleichen mehr – genau so, „as dat Läwen so spöllt“, wie der Titel eines seiner Hörspiele sagt.