Beschreibung
„Alle Kinder in China kennen diese Geschichten, so wie sie bei uns Grimms Märchen kennen. Aber während Märchen in einer undefinierten Zeit spielen – „es war einmal“ –, sind es hier 24 historische Gestalten aus einer bestimmten Dynastie, die in jedem Text auch gleich zu Anfang genannt ist. So vermitteln diese Episoden den Kindern auch einen ersten Eindruck von der überwältigenden Dauer und Kohärenz der chinesischen Geschichte. Und während es die Botschaft unserer Märchen ist, dass am Ende alles gut ausgeht – „[…] und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute“ –, so ist es die grundlegende Botschaft der chinesischen Geschichten, dass die Loyalität gegenüber der eigenen Familie jedwede andere Loyalität in den Schatten stellen muss.“ (Lothar Ledderose, in seinem Vorwort zu diesem Buch)
Wie der berühmte chinesische Schriftsteller Lu Xun (1881–1936) in einem Essay aus dem Jahre 1926 schreibt, zog er als Kind eine Ausgabe dieser „24 Pietätsgeschichten“ aus dem elterlichen Bücherregal und war zugleich fasziniert und schockiert zu lesen, was ein Kind, das als pietätvoll seinen Eltern gegenüber gelten kann, so alles zu leisten hat: Karpfen im Winter aus dem Eis zu holen, indem man es mit seinem eigenen Körper zum Schmelzen bringt, oder auch noch als Erwachsener seinen Eltern Theater vorzuspielen, als sei man noch immer ein Kind, so dass sie sich selbst für noch immer jung halten – doch wirklich entsetzt war er über die Geschichte, in der die Eltern die schwere Entscheidung treffen, ihr eigenes Kind zu begraben, damit sie die im Hause lebende Großmutter weiterhin ernähren können.
Wer in Buchläden in China, Taiwan oder Hongkong nach Ausgaben dieser Pietätsgeschichten fragt, wird nicht enttäuscht werden, denn diese gehören auch heute noch (oder wieder) zum Kanon klassisch konfuzianischen Bildungsguts. Doch wie weit reichen diese Geschichten und Bilder zurück, und wann wurden sie als 24er Zyklus „kanonisiert“? Dieser Frage geht die Einführung nach, in der die Tradition der Kindespietät bis zu ihren frühen Wurzeln sowohl in Texten über Leitbilder als auch in Darstellungen in Gräbern anhand zahlreicher Illustrationen aufgezeigt wird, ebenso wie deren Weiterleben in Japan und Korea im Kontext von deren Übernahme konfuzianischer Werte.
Ende der 70er Jahre erwarb die Religionskundliche Sammlung Marburg eine Reihe religiöser Bilder aus einer Sammlung in Taiwan; unter diesen befand sich auch dieser vollständige Satz von „24 Pietätsgeschichten“. Aus ihren eigenen Beständen, den Neuerwerbungen sowie aus Objekten aus Privatbesitz entstand eine Ausstellung, die 1980 in der Religionskundlichen Sammlung Marburg und 1981 im Ostasiatischen Museum Köln gezeigt wurde, und die in der Fachwelt weite Aufmerksamkeit bekam, da man diese Exponate der chinesischen Volksreligion des 20. Jahrhunderts bis dahin im Westen kaum gesehen hatte. In dem dazu erstellten Katalog wurden die „24 Pietätsgeschichten“ abgebildet und vorgestellt, aber ohne einzelne Übersetzungen und Erläuterungen. Diese Lücke soll nunmehr mit dem hier vorgelegten Buch geschlossen werden.
Barbara Kaulbach promovierte 1976 an der Universität Würzburg (Hauptfach Sinologie) mit einer Arbeit über die Peking-Oper. Sie arbeitete 1982–2015 für das Goethe-Institut im In- und Ausland, vorwiegend in leitender Funktion. Von ihr gibt es verschiedene Publikationen zur chinesischen Kultur: zur Peking-Oper, zum Straßentheater sowie zum religiösen Volksglauben, u.a. ist sie Mitherausgeberin des Katalogs Religiöse Malerei aus Taiwan: Ausstellung der Religionskundlichen Sammlung der Philipps-Universität Marburg, 12.10.–23.11.1980, herausgegeben von der Religionskundlichen Sammlung der Philipps-Universität Marburg.
Inhalt
Inhalt
Vorwort (von Lothar Ledderose)
Dank
Die 24 Pietätsgeschichten (二十四孝故事) und ihr kulturhistorischer Hintergrund (verfasst von Barbara Kaulbach und Dorothee Schaab-Hanke)
1 Zum chinesischen Begriff von „Pietät“ (xiao 孝)
2 Der „Klassiker der Kindespietät“ in der konfuzianischen Tradition
3 Frühe bildliche Darstellungen von pietätvollen Söhnen
4 Pietätvolle Söhne in frühen Textsammlungen
5 Feste Sets von Pietätsgeschichten und ihre Verbreitung
6 Ausstrahlung der Pietätsgeschichten nach Korea und Japan
7 Zur Rezeption der „24 Pietätsgeschichten“ im 20./21. Jahrhundert
8 Zu Inhalt und Form der Geschichtensammlung
9 Zur Ausgabe in der Religionskundlichen Sammlung Marburg
Tafel 1-4 (Die Ausgabe in der Religionskundlichen Sammlung Marburg)
Anmerkungen
Die Geschichten
Geschichte 1 舜帝大孝動天 Kaiser Shun: Durch seine große Pietät bewegte er den Himmel
Geschichte 2 漢文帝 親嘗湯藥 Kaiser Wen der Han: Er kostete selbst die Heiltränke vor
Geschichte 3 曾參齧指動心 Zeng Shen: Als (seine Mutter) sich in den Finger biss, spürte er das im Herzen
Geschichte 4 閔損蘆衣順母 Min Sun: Trotz seiner dünnen Kleidung war er gehorsam zur (Stief-)Mutter
Geschichte 5 仲由為親負米 Zhong You: Er trug Reis für die Eltern
Geschichte 6 董永賣身葬父 Dong Yong: Er verkaufte sich, um den Vater begraben zu können
Geschichte 7 剡子鹿乳奉親 Yanzi: Er bot seinen Eltern Rehmilch dar
Geschichte 8 江革行傭供母 Jiang Ge: Er verdingte sich als Diener, um seine Mutter unterstützen zu können
Geschichte 9 陸績懷橘遺親 Lu Ji: Er steckte Mandarinen ein, um sie seiner Mutter zu schenken
Geschichte 10 唐夫人乳姑不怠 Frau Tang: Sie gab der Schwiegermutter unermüdlich die Brust
Geschichte 11 吳猛恣蚊飽血 Wu Meng: Er ließ die Mücken sich an seinem Blut satttrinken
Geschichte 12 王祥臥冰求鯉 Wang Xiang: Er legte sich aufs Eis, um Karpfen zu fangen
Geschichte 13 郭巨 孝 母埋兒 Guo Ju: Aus Pietät gegenüber der Mutter (wollte er) seinen Sohn begraben
Geschichte 14 楊香扼虎救親 Yang Xiang: Sie krallte sich in den Tiger, um den Vater zu retten
Geschichte 15 壽昌棄官尋母 Shouchang: Er gab seinen Beamtenposten auf, um die Mutter zu suchen
Geschichte 16 黔婁嘗糞憂心 Qianlou: Als er die Exkremente (des Vaters) gekostet hatte, war sein Herz bekümmert
Geschichte 17 老萊子 戲彩娛親 Der alte Laizi: Er erfreute seine Eltern durch Theaterspiel in bunten Kleidern
Geschichte 18 黃香扇枕溫衾 Huang Xiang: Er fächelte das Kissen und wärmte die Decke
Geschichte 19 蔡順拾椹供親 Cai Shun: Er pflückte Maulbeeren, um sie der Mutter darzureichen
Geschichte 20 姜詩湧泉躍鯉 Jiang Shi: Die Quelle sprudelte, und Karpfen sprangen heraus
Geschichte 21 王裒聞雷泣墓 Wang Pou: Wenn er Donner hörte, weinte er am Grab
Geschichte 22 丁蘭刻木事親 Ding Lan: Er schnitzte Holz, um seinen Eltern zu dienen
Geschichte 23 孟宗哭竹生筍 Meng Zong: Er weinte, und Bambus spross hervor
Geschichte 24 黃庭堅滌親溺器 Huang Tingjian: Er leerte selbst das Nachtgeschirr der Mutter
Anhang
Zeittafel
Abbildungsnachweis
Literatur