Beschreibung
Der Band präsentiert aktuelle Beiträge aus der französischen Sozialwissenschaft, die sich an den Arbeiten und Theorien Pierre Bourdieus orientieren. Sie untersuchen die sogenannte Krise der Erwerbsarbeit und des Sozialstaats und reflektieren zugleich, wie der mediale Diskurs diese Krise begleitet beziehungsweise zu ihr beiträgt und welche Möglichkeiten intellektueller Intervention genutzt werden können.
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Autorenportrait
Thomas Hübel, Dr. phil., ist Generalsekretär des Instituts für Wissenschaft und Kunst (IWK) in Wien. Alexander Mejstrik, Dr. phil., Historiker und Soziologe, ist Forschungsmitarbeiter im ERC-Starting-Grant-Projekt "The Production of Work" am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien. Sigrid Wadauer, Dr. phil., Historikerin, ist Leiterin dieses Projekts.
Leseprobe
Der vorliegende Band enthält Beiträge aus den französischen Sozialwissenschaften zur Krise des Sozialstaats - Beiträge, die im deutschsprachigen Raum kaum bis gar nicht bekannt, aber wert sind, bekannt zu werden. Der Band erfordert daher eine zumindest dreifache Übersetzung. Erstens stellt er einen Import über eine Sprachgrenze dar, die viel zu oft auch eine Grenze für Diskussionen und direkten intellektuellen Austausch ist. Ein gutes Beispiel dafür ist die deutschsprachige Foucault-Rezeption, die auf breiter Basis erst über einen US-amerikanischen Umweg mit den dabei unvermeidlichen Verzögerung und Verzerrungen stattgefunden hat. Zweitens erfordert der Band Übersetzungen über akademische Fachgrenzen (etwa zwischen Soziologie, Geschichte, Kultur- und Sozialanthropologie) hinweg. Drittens handelt es sich um Übersetzungen von Produkten wissenschaftlicher Forschung, die der Erkenntnisinnovation verpflichtet sind, in die Sprache(n) und Agenden größerer Öffentlichkeiten, deren wichtigste Funktion es ist, an der Politik praktisch teilzunehmen: Es handelt sich also um Vermittlung und Wissenstransfer. All diese Übersetzungsleistungen sind unumgänglich, wenn man versucht, ausgehend von wissenschaftlicher Forschung in öffentlichen Diskussionen um drängende, "heiße" Themen zu intervenieren. Zu solch heißen Themen gehören schon seit den späten 1970er Jahren die Krise(n) des Sozialstaats und der sozialen Sicherungssysteme, die Erosion der Arbeitsgesellschaft, der Erwerbsarbeit und der Normalerwerbsbiografie, die Flexibilisierung der Beschäftigungsverhältnisse sowie die zunehmende Prekarisierung von Arbeits- und in der Folge auch von Lebensverhältnissen. Besonders Umbau, Rückbau und Zukunft des Sozialstaats werden heftig diskutiert. Im Vordergrund der Debatten steht die Finanzierbarkeit des Sozialstaats, die durch schrumpfendes Wirtschaftswachstum, steigende Arbeitslosenzahlen und das Schwinden der Normalerwerbsbiografie zugunsten atypischer und schlecht bezahlter Beschäftigungsverhältnisse gefährdet erscheint. Weitere Probleme bilden demografische Veränderungen und die sich verschärfende Konkurrenz am Weltmarkt. Letztere führt zu einer immer stärkeren Orientierung staatlicher Politik am internationalen Wettbewerb um günstige Standortfaktoren. Neben der finanziellen Krise wird aber auch eine Legitimationskrise diagnostiziert. Hier laufen sehr unterschiedliche Argumentationslinien zusammen. In letzter Zeit wurde vor allem auf die durch die Zunahme prekärer Arbeits- und Lebensverhältnisse verursachten Spaltungstendenzen in der Gesellschaft und die dauerhafte Ausgrenzung schwächerer Gruppen hingewiesen. Zudem nehmen besonders junge Menschen mittlerweile eine skeptische Haltung zum Sozialstaat ein: Sie heißen ihn zwar im Prinzip gut, erwarten aber in Zukunft nur mehr geringe Leistungen von ihm. Die in all diesen Debatten oft bemühte Rede von der Krise des Sozialstaats ist allerdings problematisch, wird mit ihr doch suggeriert, dass der Sozialstaat selbst der hauptsächliche Verursacher wirtschaftlicher und sozialer Missstände wäre. Im Gegenteil dazu befassen sich die im vorliegenden Band enthaltenen Beiträge zwar mit einzelnen der genannten Problembereiche (wie den Konflikten zwischen Generationen, der Abkopplung sozial schwacher Gruppen oder der Durchsetzung betriebswirtschaftlichen Denkens im öffentlichen Sektor). Anstatt jedoch gebräuchliche ready-made-Diagnosen zu verwenden, verstehen sie diese als Teil des Problems: Sie stehen in kritischer Distanz zu den medial geführten Debatten über den Niedergang des französischen Sozialmodells, die oft von Pauschalurteilen, Stereotypen und dem Einsatz vager, unbestimmter Begriffe geprägt sind; und sie reflektieren die Rahmenbedingungen, denen die eigene Forschung und vor allem der Transfer der Ergebnisse in die Öffentlichkeit unterliegen. Sie implizieren daher eine sozialwissenschaftliche Vorstellung von der Produktion von Öffentlichkeit und deren heißen Themen. Heiße Themen werden in den großen Öffentlichkeiten definiert, durchgesetzt und abgehandelt. Sie werden als Fakten öffentlicher Sorge produziert, das heißt gleichzeitig als "das, was der Fall ist", und als "das, was für alle wichtig ist". "Die Fakten werden durch und für die Auseinandersetzungen um die Durchsetzung von Sinn und Wert der sozialen Welt produziert", schrieb Pierre Bourdieu: "Kommentare, Editorials, Manifeste, Demonstrationen, Petitionen, Interpellationen, Deklarationen sind auch symbolische Gewaltstreiche. Sie zielen weniger darauf ab, die Fakten zu erklären, als darauf, die Fakten derart zu konstruieren, dass deren Wahrnehmung und Einschätzung in bestimmte Bahnen gelenkt wird. Sie möchten [] weniger sagen, worum es geht, als, was man davon zu halten hat." Mit der Intervention zu heißen Themen in einer Öffentlichkeit kommen die Intellektuellen ins Spiel. Die größte dieser Öffentlichkeiten - die so groß ist, dass sie zumeist als Öffentlichkeit schlechthin, als die Öffentlichkeit bezeichnet wird - ist die von den Massenmedien dominierte Öffentlichkeit. Sie ist von höchster politischer Brisanz und betriebswirtschaftlich organisiert. Die Güterproduktion in dieser Öffentlichkeit ist daher nicht neutral: Nicht alles gilt jederzeit als politikwürdig, nicht alles lässt sich gut verkaufen. Nicht jede/r kann etwas öffentlich machen: Der Zugang zu Situationen, in denen Öffentlichkeit produziert wird, ist nicht für alle in gleichem Ausmaß offen. Daher tragen Angehörige bestimmter Berufe, allen voran die Professionellen der Massenmedien selbst, ganz besonders zur Herstellung eines öffentlichen und damit relevanten, verbindlichen Faktums - etwa der Krise des Sozialstaats - bei. Es herrscht die Logik der News: schnelllebige Produkte, die dringlich, wichtig und unmittelbar nützlich erscheinen (daher unmittelbar verständlich sein müssen) und eventuell noch Unterhaltungswert haben, indem sie etwa Krisen- und Katastrophenangst(lust) erregen oder Anlass für moralische Empörung bieten können.
Schlagzeile
Studien zur historischen Sozialwissenschaft