Beschreibung
Zwischen 1750 und 1830 vollzog sich in Frankreich ein medizinischer Paradigmenwechsel: War die Geburtshilfe bis dato in weiblicher Hand, machten sich nun männliche Ärzte und Chirurgen mit aufklärerischem Eifer an die Erschließung des schwangeren und gebärenden Frauenkörpers. Ihr Ziel war es, sich als neue wissenschaftliche Autorität in der Geburtshilfe zu etablieren - zum Nachteil der Hebammen und ihres Erfahrungswissens, die allmählich verdrängt wurden. Anhand von circa 300 Fallberichten aus medizinischen Zeitschriften eröffnet Lucia Aschauer neue Perspektiven auf die Geschichte von Schwangerschaft und Geburt und legt die Entstehungsbedingungen einer bis heute fortwirkenden geburtshilflichen Wissensordnung offen.
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Autorenportrait
Lucia Aschauer promovierte an der Universität Bochum; sie arbeitet derzeit an der École des hautes études en sciences sociales (EHESS) und am Centre interdisciplinaire détudes et de recherches sur lAllemagne (CIERA) in Paris.
Rezension
»Das Buch überzeugt durch seine kluge Analyse der Texte.« Jürgen Schlumbohm, H-Soz-Kult, 27.04.2021
»Lucia Aschauer [liefert] mit ihrer Studie nicht nur einen fundierten Überblick über die bestehenden Ansätze auf dem stetig wachsenden Feld der Fallgeschichtsforschung, sondern bereichert dieselbe mit einem innovativen und akribisch recherchierten Beitrag. Mit ihrer Analyse der Narratologie des (geburtshilflichen) Falls wendet sich die Historikerin einer neuen, durchaus erkenntnisreichen Facette der historischen Fallgeschichtsforschung zu, die nicht nur im spezifischen Kontext der Geburtshilfe wertvolleImpulse liefert, sondernauch darüber hinausAnwendungin der Wissenschafts-, Kultur- und Medizingeschichte finden sollte.« Marina Hilber, Zeitschrift für historische Forschung, 48 (2021) 1
»Atemberaubend gut!« Eva Hallama, WeiberDiwan, 25.07.2022
Leseprobe
1. Einleitung 1.1 Der Fall Siccaud. Konstitution des Untersuchungsgegenstandes Im Herbst des Jahres 1754 tritt die 37-jährige Demoiselle Siccaud in den Stand der Ehe. Kurze Zeit darauf häufen sich die Zeichen einer beginnenden Schwangerschaft: Unwohlsein, Übelkeit und Erbrechen, Veränderungen in der Farbe und Form der Brüste sowie eine unbändige Lust auf bestimmte Nahrungsmittel. Rasch kommen die untrüglichen Bewegungen des im Mutterleib heranwachsenden Kindes dazu. Der hinzugerufene Arzt Monsieur Deydier bestätigt bei seiner Ankunft im Hause der Schwangeren die Selbstdiagnose seiner Patientin. Lediglich die fortdauernde Monatsblutung der Demoiselle bereitet ihm Sorgen, die sich bald als begründet erweisen: Im vierten Schwangerschaftsmonat erleidet die Patientin eine Fehlgeburt und statt eines Kindes wird dem Arzt ein blutiges, heuschreckenartiges Etwas vorgelegt. Auf den Schrecken dieser unheilvollen Niederkunft folgt wenige Zeit später eine zweite Schwangerschaft. Zunächst deutet alles auf einen unproblematischen Verlauf hin, doch erneut lässt das Unglück nicht lange auf sich warten. Die erwartete Geburt bleibt aus und die Demoiselle leidet monatelang unter schmerzhafter Wassersucht, die sie zur Bettruhe zwingt. Nahezu zwei Jahre vergehen, bevor sie im Februar des Jahres 1757 schließlich mithilfe ihrer Hebamme ein totes Kind zur Welt bringt. Noch im selben Jahr wird die Geschichte der Demoiselle Siccaud und ihrer kuriosen Schwangerschaften in der Rubrik 'Observations de Médecine' der Zeitschrift Recueil périodique dobservations de médecine, de chirurgie et de pharmacie unter der Überschrift 'Histoire dune fausse-couche singulière, suivie peu de tems après dune grossesse extraordinaire' einem medizinischen Fachpublikum präsentiert. Die erste Konfrontation der Leserin mit dem Fall Siccaud löst heute Befremden aus. Aus der ärztlichen Schilderung spricht eine beunruhigende Unkenntnis der weiblichen Physiologie, Aderlass und Purgieren werden als wertvolle Therapiemaßnahmen bei Schwangerschaftskomplikationen gepriesen und die Demoiselle erfährt zu keinem Zeitpunkt eine Linderung ihrer Schmerzen. Mit anderen Worten, dieser Fall von Monstergeburt und nicht enden wollender Gravidität scheint einem obskuren, geradezu vorwissenschaftlichen Zeitalter zu entspringen. Um Sinn aus dieser auf den ersten Blick unsinnigen Erzählung zu schaffen, führt der Weg - so die methodische Grundvoraussetzung vorliegender Untersuchung - über die Historisierung, die mit Glenn Most als 'a specific mode of cognitive activity which defines a body of knowledge [] by its temporal structure' definiert werden kann. Im Fall der Demoiselle Siccaud bedarf das Befremdliche, seien es medizinische Begriffe, ärztliche Argumentationsweisen oder geburtshilfliche Praktiken, einer Rückführung in seine ursprünglichen epistemischen Welten. Gleichzeitig gilt es, irreführenden retrospektiven Diagnosen vorzubeugen, indem Vorannahmen, die auf heutigen medizinischen Kenntnissen gründen, kenntlich gemacht werden. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Demoiselle Siccaud erfordert daher sowohl Kontextualisierung, das Vertrautmachen des Fremden, als auch Entfamiliarisierung, das Fremdmachen des Vertrauten. Über die Historisierung von konkreten medizinischen Begriffen und Praktiken hinaus muss die Analyse des Falls Siccaud eine tiefergreifende Historisierung von Körperlichkeit leisten. Wird der Demoiselle gleich im ersten Satz des ärztlichen Berichts ein 'tempérament sanguin, vif & bileux' attestiert, deutet dies auf den nachhaltigen Erfolg humoralpathologischer Erklärungsmuster hin, die bis weit ins 19. Jahrhundert hinein wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Diskurse zugleich prägten. Spätestens die detailreiche Beschreibung des toten Fötus, den der Arzt einer gewissenhaften Sektion unterzieht, zeugt jedoch von dem Herannahen eines neuen, anatomisch-physiologischen Körperbildes. Auch die Darstellung der monströsen Fehlgeburt der Demoiselle ist nicht frei von Ambivalenz. Wird die Imagination der Leserin zunächst angeregt durch die Erwähnung eines 'corps solide de la figure dune sauterelle privée de ses ailes', bricht der Verfasser des Berichts schon im nächsten Halbsatz mit der Heraufbeschwörung des Kuriositätendiskurses und stellt in aufklärerischer Manier fest: '[] je ne doute point que cet objet, vu par des gens crédules, neût donné lieu à un de ces contes avec lesquels nous savons quon abuse trop souvent de la simplicité du peuple [].' Wie ist dieser erzählerische Bruch zu deuten? Der mäandernde Verlauf der zweiten Schwangerschaft der Demoiselle stellt die Leserin des ärztlichen Berichts vor ein weiteres Rätsel. Bereits die einleitende Schwangerschaftsdiagnose erfolgt in zweideutiger Rede: 'Environ cinq mois après, elle éprouva les maux de cur, les nausées, les vomis¬semens, les envies pour certains alimens []. Elle se crut grosse [].' Dass der Verfasser des Berichts die Eindrücke der Demoiselle zitiert, statt seine eigene Diagnose zu erstellen, zeugt von seiner starken Abhängigkeit gegenüber dem Erfahrungswissen seiner Patientin, aber auch von einer Distanziertheit, die im Laufe der Fallerzählung in offenes Misstrauen umschlägt. Als die zweite Schwangerschaft seiner Patientin kein Ende nehmen will, formuliert Monsieur Deydier seinen Argwohn explizit: 'Je ne cessois [] de lassurer positivement [dans lidée] dune grossesse denfant []; javoue que jen avais dès long-tems une tout autre [].' Was verbirgt sich hinter diesen zähen Verhandlungen zwischen dem Arzt und der Demoiselle über die korrekte Schwangerschaftsdiagnose? Eine weitere Figur sticht schließlich bei der Lektüre des Falls Siccaud hervor: die Hebamme, die in der geburtshilflichen Handlung eine tragende Rolle spielt. Sie bleibt stets an der Seite der Demoiselle, betreut sie während ihrer Schwangerschaften, führt die Entbindungen durch und wirft somit die Frage auf: Wer ist in diesem geburtshilflichen Bericht eigentlich der wahre Geburtshelfer? Auch in dieser Hinsicht scheint eine starke Informationsabhängigkeit des Arztes gegenüber einem durch die Hebammenfigur verkörperten weiblichen Erfahrungswissen zu bestehen. Da dem Mediziner bei der Untersuchung seiner Patientin nur das äußere Abtasten des schwangeren Bauchs gestattet ist, muss er sich auf die Beobachtungen und Sinneseindrücke der erfahrenen Hebamme stützen: '[] la sage-femme ayant poussé par mon ordre ses recherches plus avant, elle me rapporta quelle avoit touché dans la matrice quelque chose de dur et darrondi, quil lui avoit paru éprouver la même sensation, que seroit sur ses doigts une petite portion de poitrine dagneau [].' Das Können der Hebamme wird zwar anerkannt, die Betonung der rein praktischen Beschaffenheit ihres Wissens durch das Wortfeld des Handwerks ('habile', 'expérience', 'emploi') legt aber zugleich nahe, ihre Expertise als eine den gelehrten Kenntnissen des ärztlichen Erzählers untergeordnete Wissensform zu begreifen. Wie ist diese zweideutige Charakterisierung der Hebamme einzuordnen? Die im Rahmen dieser kurzen Vorstellung des Falls Siccaud lediglich angerissenen Fragestellungen genügen, um die Relevanz ärztlicher Fallberichte für die Medizin- und Kulturgeschichte der Geburt zu belegen. Als Zeugnisse vergangener geburtshilflicher Praktiken geben sie Auskunft über eine Zeit tiefgreifender Veränderungen. Sie berichten von der langsamen Ablösung humoralpathologischer Erklärungsmuster durch anatomisch-physiologische Modelle und von der Herausforderung weiblich tradierten Erfahrungswissens durch neue geburtshilfliche Instrumente, die ins Körperinnere vordrangen und die Grenzen des Wahrnehmbaren verschoben. Auch in die schwer zugänglichen Bereiche der histoire du sensible, beispielsweise in die Geschichte des Schmerzes oder die Geschichte der Mutterliebe, bieten die ärztlichen Erzählungen Einblicke. Vor allem aber zeugen sie von Machtkämpfen zwischen rivalisierenden geburtshilflichen Akteur*innen. War die Geburtshilfe bis ins 18. Jahrhundert ...
Inhalt
Inhalt
1. Einleitung 9
1.1 Der Fall Siccaud.
Konstitution des Untersuchungsgegenstandes 9
1.2 Fall, Fallwissen, Fallgeschichte.
Forschungsstand und Begrifflichkeiten 16
1.3 Quellen und Untersuchungszeitraum 27
1.4 Methode und Aufbau 35
Teil I. Die geburtshilfliche observation als »epistemic genre«. Theorie und Praxis einer issenschaftlichen Gattung
2. Wissenschaftliche Beobachtung im 18. Jahrhundert.
Der epistemische Kontext der geburtshilflichen observation 49
2.1 Der ideale Beobachter 52
2.2 Beobachtungswissen und medizinische Doktrin 57
2.3 Theorie und Praxis kollektiver Beobachtung 60
2.4 Konkurrierende epistemische Konzepte.
»Observation« und »expérience« 64
2.5 Die Beobachtungsliteratur als Mittel der Profilierung? 66
3. Gattungskonventionen, Gattungsbewusstsein und Gattungswissen.
Die observation zwischen Poetologie und geburtshilflicher Praxis 70
3.1 Theoretische Anforderungen. Die Poetiken der observation 71
3.2 Die geburtshilflichen observations aus dem Journal de médecine. Autorschaft und Gattungswissen 81
4. Spurensuche. Elemente einer vergleichenden Gattungsgeschichte der geburtshiflichen observation 94
4.1 Hybridisierungen. Die historischen Vorläufer der observation 95
4.2 Wechselseitige Beeinflussungen.
Zeitgenössische Gattungen und ihr Verhältnis zur observation 101
5. Epistemische Funktionen. Die geburtshilfliche observation in der wissenschaftlichen Kommunikation 116
5.1 Wirkungsorte und Funktionen 129
5.2 Die Debatte über die Schambeinsektion.
Souchot (1777) vs. Vepres (1778) 141
5.3 Zum paradigmatischen Charakter
der geburtshilflichen observation 153
Teil II. Die geburtshilfliche observation als »Wirklichkeitserzählung«. Die narrative Etablierung einer neuen geburtshilflichen Wissensordnung
6. Zur Narrativik der geburtshilflichen observation 159
6.1 Grundzüge und Herausforderungen einer Narratologie des Faktualen 161
6.2 Der epistemische Pakt oder die Herstellung epistemischer Autorität in der observation 166
6.3 Die Erzählstruktur der geburtshilflichen observation 172
6.4 Narrative Evidenz und epistemische Leerstelle 188
6.5 Der Wandel geburtshilflichen Erzählens (1750–1830) 199
7. Der männliche Geburtshelfer.
Vom lüsternen Peiniger zum heroischen Retter 205
7.1 Das Schreckensbild des grausamen Accoucheurs am Beispiel von de Sades La nouvelle Justine (1799) 206
7.2 Das neue Selbstverständnis der männlichen Geburtshelfer.
Zwei narrative Umdeutungsstrategien 212
7.3 Die Formulierung eines Identifikationsangebots 220
8. Die Hebammenfigur.
Von der diskreditierten Konkurrentin zur gefügigen Gehilfin 224
8.1 Aggressive Diskreditierung 226
8.2 Harmonische Unterordnung 236
9. Anschreiben gegen das weibliche Erfahrungswissen.
Die Herausbildung einer geburtshilflichen Expertenstimme 241
9.1 Von der frühmodernen Vielstimmigkeit 244
9.2 Zur Einstimmigkeit der (Accouchier-)Klinik 252
10. Schluss 264
Quellen und Literatur 272
Anhang 296
Dank 343