Beschreibung
Die von Améry zum Zeitgeschehen verfaßten Kommentare und Analysen sind wegen ihrer gedanklichen Schärfe und stilistischen Brillanz heute noch lesenswert - und die wichtigsten von ihnen hat Stephan Steiner für diesen Band neu gelesen und kommentiert. Sie greifen Fragen der deutschen und internationalen Nachkriegsgeschichte auf: die der Nachwirkungen der NS-Epoche, des Antisemitismus- Problems und der politischen Nachkriegsordnung. Améry hat über Gewalt, über die Anziehungskraft radikaler Bewegungen nachgedacht, über die heimatlose Linke, und früh schon taucht in seinen Analysen die Frage des politischen Terrorismus auf. Die stupende thematische Vielfalt der Publizistik Amérys macht diesen Band zu einem Kompendium der deutschen Nachkriegsgeschichte - und sie zeigt einen etwas anderen Améry: 'Hier erscheint er als aktivistisch, den Puls der Zeit fühlend, nicht selten hoffnungsgeladen. Zwischen dem aus Auschwitz Befreiten und dem Toten von Salzburg liegen immerhin 30 Jahre, in denen gelebt, debattiert und auch gekämpft wurde' (Steiner). Radikaler Humanismus ist der Maßstab dieser aufregend aktuellen Texte.
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Autorenportrait
Jean Améry, im Oktober 1912 als Hans Mayer in Wien geboren, zählt zu den bedeutendsten europäischen Intellektuellen der sechziger und siebziger Jahre. Seine bahnbrechenden Essays sind in ihrer Bedeutung vielleicht nur mit den Schriften Hannah Arendts und Theodor W. Adornos zu vergleichen. Als Reflexion über die Existenz im Vernichtungslager stehen sie vermutlich Primo Levis Büchern am nächsten. Zugleich jedoch hat Améry wie kaum ein anderer Intellektueller die deutsche Öffentlichkeit mit französischen Denkern und Schriftstellern bekannt gemacht und konfrontiert. Jean Améry starb im Oktober 1978 durch eigene Hand. Von Irene Heidelberger-Leonard ist bei Klett-Cotta eine Biographie von Jean Améry erschienen. Bei KlettCotta erscheint die neunbändige, reich kommentierte Werkausgabe mit zahlreichen noch nicht veröffentlichten Texten. Damit besteht zum ersten Mal ein Gesamtüberblick über das vielseitige Werk Amérys. Irene Heidelberger-Leonard, geboren 1944 in der Emigration in Frankreich, war Professorin an der Université Libre de Bruxelles und publizierte zu Günter Grass, Alfred Andersch, Jurek Becker, W. G. Sebald und Imre Kertész. Sie ist die Gesamtherausgeberin der bei Klett-Cotta erscheinenden Améry-Werkausgabe. Für ihre Biographie "Jean Améry. Revolte in der Resignation" (2004) erhielt sie den Preis der Einhard-Stiftung für herausragende Biografik.
Leseprobe
Stephan Steiner Nachwort »Versuche ich, quantitativ abzuschätzen, was [] von mir schriftlich niedergelegt wurde, so komme ich auf die konsternierende Ziffer von rund 5000 Zeitungsartikeln, die zusammen etwa 15000 Seiten ausmachen würden, eine fast erschreckend umfangreiche Produktion.« (GA S. 540f.) Auf den ersten Blick mag Amérys Schätzung aus dem Jahre 1972 wie eine derjenigen Übertreibungen anmuten, die in die Welt gesetzt werden, um einer an sich schon staunenswerten Produktivität noch etwas mehr Strahlkraft zu verleihen. Denn auf eine umfangreiche Publikationsliste konnte der Autor zweifelsohne zurückblicken - aber 5000 Beiträge? Das hieße ein Artikel jeden zweiten Tag oder 185 Artikel pro Jahr, keiner davon in der Kürze einer Notiz, manche hingegen im Umfang einer kleinen Broschüre. Stilisierte Améry also sein Arbeitspensum? Im Angesicht des Améryschen Nachlasses im Deutschen Literaturarchiv in Marbach verstummen derartige Fragen und weichen der Gewißheit, daß man es hier tatsächlich mit einer außergewöhnlich produktiven Schreiber-Existenz zu tun hat. Die Bücher, die Améry publizierte, sind bloß die weithin sichtbare Spitze einer Gesamtproduktion, deren Basis eine kaum überschaubare Zahl von Zeitschriften- und Zeitungsartikeln bilden, die seit dem Kriegsende in ununterbrochener Folge verfaßt wurden. Schon die Fülle der archivierten Typoskripte ist beeindruckend, obwohl sie - bis auf wenige Ausnahmen - bloß für die Zeit nach »Jenseits von Schuld und Sühne« vorhanden sind. Die quantitativ wahrscheinlich umfangreichere Arbeit aus der Zeit zwischen 1945 und 1965 existiert im DLA nur noch in einer Sammlung von Zeitungsausschnitten. Obwohl diese als ausgesprochen unvollständig betrachtet werden muß, umfaßt sie allein mehrere hundert Titel. Diese Ausrisse sind das einzige, was von Améry als »Handwerker der Journalistik« geblieben ist. Unter ihnen finden sich auch die von ihrem Autor gerne verschwiegenen Kolportage-Arbeiten, von denen besonders in den fünfziger Jahren nicht wenige entstanden. Vermehrt man diese archivierten Texte um die bei genaueren Recherchen auftauchenden, die bislang in keiner Bibliographie aufgelistet wurden, so gehört Améry zweifellos zu den produktivsten Schreibern seiner Generation. Schriften zu Politik und Zeitgeschichte finden sich in Amérys Gesamtproduktion so zahlreich, daß man damit mehrere Bände füllen könnte, allerdings stammen fast alle Texte von Rang aus der Zeit nach »Jenseits von Schuld und Sühne«. Améry interessierte sich zwar schon in den fünfziger und sechziger Jahren für Zeitereignisse und äußerte sich dazu - erinnert sei zumindest an seine Churchill-Biographie -, aber in diesen Arbeiten mußte er allerwegen auf den Publikumsgeschmack Rücksicht nehmen und erhielt kaum Gelegenheit, eine eigene Sicht der Dinge zu entfalten. Eine Ausnahme bildet das (von ihm selbst aus seinem Werkverzeichnis ausgeklammerte) Buch »Geburt der Gegenwart« von 1961, das schon deutlich eine eigene Handschrift aufweist. Entscheidend für Amérys Zurückhaltung, während der ersten bei den Nachkriegsjahrzehnte Kommentare zum Zeitgeschehen zu verfassen, war keine politische Orientierungslosigkeit, sondern einzig das Fehlen von diesbezüglichen Aufträgen. Er konnte es sich einfach nicht leisten, für die Schublade zu produzieren, und ließ es deshalb bleiben. Erst mit seiner breiteren Wahrnehmung als Essayist verlangten Redaktionen auch nach seinen politischen Kommentaren, und ab diesem Zeitpunkt begann er sich auch auf diesem Feld zu etablieren. Dann allerdings mit einer Vehemenz, die deutlich macht, daß er nur darauf gewartet hatte, nach seinen Stellungnahmen gefragt zu werden. []
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