Beschreibung
Von den ersten Organtransplantationen in den 1960er-Jahren über die Reproduktionstechnologien bis hin zur Stammzellforschung und der viel diskutierten Hirnforschung sind Biowissenschaften immer auch Gegenstand philosophischer Debatten. Weit über das Fach hinaus prägen sie unser Denken und Sprechen und damit auch öffentliche Auseinandersetzungen. Die Autorin geht den geschlechterpolitischen Dimensionen dieser Biophilosophien nach. Sie gibt erstmals einen kritischen Überblick über den philosophischen Diskurs zu Biowissenschaften und Biotechnologien von der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart.
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Autorenportrait
Susanne Lettow, Dr. phil., ist Privatdozentin an der Universität Paderborn sowie Projektleiterin und Visiting Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen, Wien.
Rezension
Politik der Geschlechterverhältnisse
Leseprobe
Biowissenschaften und technologien sind seit den 1960er Jahren immer wieder Anlass philosophischer Reflexion geworden. Molekularbiologie und Genetik, seit den 1950er Jahren auf konzeptioneller Ebene eng mit der Informationstheorie verbunden, werden im philosophischen Diskurs ebenso aufgegriffen wie die technologischen und biomedizinischen Entwicklungen in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts - angefangen mit den ersten Organtransplantationen in den 1960er Jahren, über die Entstehung rekombinanter DNA-Technologien und der Reproduktionstechnologien in den 1970er Jahren, bis hin zu den Versprechen der Stammzellforschung und der Konjunktur der Hirnforschung zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Es geht daher um wissenschaftliche und technologische Entwicklungen, die auf die konzeptionelle Durchdringung und praktisch-technologische Gestaltung der Mikrostrukturen von Menschen, Tieren und Pflanzen zielen. Diesen hat sich jedoch keineswegs nur die Ethik, in Form der Bioethik, zugewandt. Auch in poststrukturalistischen Positionen, in der analytischen Philosophie des Geistes und im Rahmen des Wiederauflebens der philosophischen Anthropologie, das seit einigen Jahren im deutschsprachigen Raum zu konstatieren ist, haben sich theoretische Strategien herausgebildet, die sich in unterschiedlicher Form auf den Komplex der Biowissenschaften und Biotechnologien beziehen. In diesem Buch wird daher das philosophische Feld insgesamt in den Blick genommen und daraufhin befragt, welche wirkmächtigen theoretischen Strategien sich in den vergangenen Jahrzehnten herausgebildet haben. Als "Biophilosophien" werden diese Strategien nicht nur aufgrund ihrer thematischen Ausrichtung bezeichnet, sondern auch, weil sie sich - mit Michel Foucault gesprochen - als Elemente einer Biopolitik erweisen, die nicht nur die staatliche Regulierung von Biowissenschaften und technologien, sondern auch die Entstehung neuer Formen der Subjektivierung und Normalisierung umfasst. Philosophische Artikulationen von biowissenschaftlichem Wissen und Biotechnologien gliedern diese nicht allein ins philosophische Feld und dessen spezifische Denk- und Sprechweisen ein. Sie bringen darüber hinaus auch kulturelle und politisch-ethische Codierungen hervor, die die gesellschaftlichen Diskurse um diese Wissenschaften und Technologien mit prägen - und damit indirekt auch diese selbst. Weit davon entfernt, "reine" Erkenntnisprojekte zu sein, sind die hier untersuchten philosophischen Interventionen und Diskurse Teil der gesellschaftlichen Politiken um Biowissenschaften und technologien. Sie berühren Fragen der Ökonomie, des Rechts, der gesellschaftlichen Naturverhältnisse ebenso wie Körper- und Bevölkerungspolitiken, die sich wiederum um so existenzielle Bereiche wie Fortpflanzung und Geburt, Gesundheit und Krankheit, Altern, Sterben und Tod herum gruppieren. Dabei stehen Entwürfe von Subjektivität und Handlungsfähigkeit individueller und kollektiver Lebensweisen ebenso auf dem Spiel wie die Formen und Möglichkeiten gesellschaftlicher Partizipation an wissenschaftlichen und technologischen Entwicklungen. Die hier untersuchten philosophischen Praxen und Strategien adressieren diese Fragen zum Teil direkt, zum Teil nur implizit und auf sehr unterschiedliche Art und Weise. An der kulturellen Artikulation von Biowissenschaften und technologien arbeitend, sind sie jedoch immer in Machtverhältnisse und daher auch in Geschlechterverhältnisse verstrickt. Denn alle gesellschaftlichen Verhältnisse sind auch Verhältnisse, in denen Individuen als vergeschlechtlichte agieren und vergeschlechtlicht werden. Geschlechterverhältnisse bilden keinen spezifischen gesellschaftlichen "Bereich", der sich gesondert betrachten ließe, sondern sind eine konstitutive Dimension des Sozialen. Ihre spezifische Ordnung und die Formen geschlechtlicher Subjektivität, von Männlichkeit und Weiblichkeit, sind historisch kontingent und wandelbar. Sofern philosophische Artikulationen aber in einem sozialen und kulturellen Kontext stehen beziehungsweise in diesen intervenieren, stellen sie immer auch eine Relation zu dessen geschlechterpolitischen Dimensionen her, ob dies nun intentional und explizit oder implizit beziehungsweise im Modus der Ausblendung geschieht. Daher gilt es, die philosophischen Interventionen, die sich thematisch oder konzeptionell auf Biowissenschaften und technologien beziehen, daraufhin zu befragen, wie diese Relation hergestellt wird. In diesem Zusammenhang sind die Positionen, die feministische Philosophinnen in den vergangenen Jahrzehnten formuliert haben, bedeutsam. Ein Blick auf die Disziplin zeigt jedoch, dass diese dort immer noch marginal sind. Die Analyse hat sich daher insbesondere mit jenen dominanten Positionen auseinanderzusetzen, die Geschlecht und Geschlechterverhältnisse nicht, nur am Rande oder auch im Widerstreit mit feministischen Intentionen thematisieren. Untersucht wird, worin die Spezifik der biophilosophischen Artikulationen besteht, das heißt, wie in den unterschiedlichen Strategien philosophische Kompetenz eingesetzt wird, um Geschlechterverhältnisse zu artikulieren beziehungsweise zu desartikulieren. Im Modus der Kritik und der bestimmten Negation geht es darum, strukturelle Defizite in den bisherigen philosophischen Artikulationen auszuloten, dabei jedoch zugleich auch Ansatzpunkte dafür aufzuzeigen, wie gegenwärtige philosophische und gesellschaftliche Debatten um Biowissenschaften und -technologien transformiert und erweitert werden können. Im Zentrum der Arbeit stehen Geschlechterverhältnisse, weil mit den Biowissenschaften und technologien menschliche Körper, die immer auch Geschlechtskörper sind, auf neuartige Weise praktisch verändert und kulturell artikuliert werden. Mit dem Durchlässigwerden von individuellen Körpergrenzen durch die Zirkulation menschlicher und tierischer Körperstoffe und durch technische Interventionen in körperliche Mikroprozesse stehen tradierte Vorstellungen von Körper, Sexualität, Fortpflanzung und Verwandtschaft zur Disposition. In gesellschaftlichen Strukturzusammenhängen, die durch hierarchische Geschlechterverhältnisse geprägt sind, liegt es dabei nahe, dass sich an diese Veränderungen neue Formen sozialer Ungleichheit zwischen den Geschlechtern anlagern. So stehen weibliche Körper, die Eizellen und Embryonen hervorbringen, auf eine Art und Weise im Zentrum medizinischer, wissenschaftlicher und bioökonomischer Interessen, für die es in Hinblick auf männliche Körper keine Entsprechung gibt. Die wissenschaftlichen und technologischen Zugriffe richten sich dabei nicht auf "den Körper" schlechthin - auch nicht auf "den Frauenkörper" - sondern auf geschlechtliche Individuen, die zudem in ökonomischen und geopolitisch bestimmten Ungleichheitsstrukturen situiert sind. In den biowissenschaftlichen und technologischen Prozeduren werden menschliche Körper vielmehr auf unterschiedliche Art und Weise, mit unterschiedlichen Risiken, materiellen und symbolischen Einsätzen vergesellschaftet. Auf welche Art und in welchem Ausmaß dies geschieht, kann dabei nicht durch den isolierten Blick auf einzelne wissenschaftliche Praxen und technische Verfahren verstanden werden, sondern nur, sofern die "gesellschaftlichen Wissenschafts- und Technologieverhältnisse" (Haraway 1985/1995, 54) in den Blick genommen werden.
Inhalt
Inhalt Dank 9 Einleitung 11 1. Bioethik als symbolische Transformation von Fortpflanzungsverhältnissen 29 1.1 Die bioethische Artikulation von Wissenschaft, Technologie und Ethik 37 Der "blinde Fleck" der Bioethik: Wissenschafts- und Technikdeterminismus 38 Ethik als angewandte Ethik 41 Ein Beispiel: Der Embryo als ethisches Objekt 45 1.2 Nutzen, Wert und Würde - Symbolische Inwertsetzung und juridische Regulation 50 Kosten und Nutzen. Ökonomie als Moral 54 Eigentum an sich selbst 58 Wert haben 62 "Menschenwürde" und Juridifizierung 67 1.3 Mensch, Person und Autonomie - Strategien der Subjektivierung 71 Die Differenz Mensch/Person 72 Die "Person" bei Locke und Kant 76 Embryonen-Personen und Körperverhältnisse 80 Autonomie und Handlungsfähigkeit 83 1.4 Ethik, Politik und die Transformation der Bioethik 86 Feministische Bioethik - Positionen und Strategien 89 Transformation der Bioethik 96 2. Technoaffinitäten: Sexualität, Geschlecht und Wissenschaftsmetaphern im Poststrukturalismus 101 2.1 Schrift und Programm - Metaphysikkritik, Kybernetik und Genetik bei Jacques Derrida 108 Kybernetik, Genetik und das philosophische Projekt der ''Grammatologie'' 109 Wege der Kybernetik: Heidegger und Jakobson 113 Kritik der Präsenz, der Natur, der Weiblichkeit 116 Derrida, die Molekularbiologie und die skriptuale Metaphorik 121 2.2 Molekularbiologie als Poststrukturalismus - Die Interventionen von Gilles Deleuze und Felix Guattari 124 Differenz, Selektion - Fortpflanzung, Wiederholung 125 Genetik statt Kybernetik. Die Lacan-Kritik im ''Anti-Ödipus'' 131 Viren, Mutationen und genetische Decodierung - Die Strukturalismuskritik in ''Tausend Plateaus'' 135 Dualismenumwertung: Materie und Maskulinität 140 Feministischer Vitalismus 145 2.3 Informationelle Individuen - Lyotard und die "Hegemonie der Informatik" 148 Die Hegemonie der Informatik 149 Materialität, Körperlichkeit und Geschlecht - Technikkritische Perspektiven 155 Philosophie als Anti-Technologie 159 2.4 Ausblick 163 3. Neurosubjekte: Die Artikulation von Neurowissenschaften in der Philosophie des Geistes 171 3.1 Naturalismus als Naturalisierung von Geschlecht 176 Epistemologie des Naturalismus 178 Naturalismus als Biologismus 184 3.2 Kontrolle und Flexibilität - Informationelle Metaphorik als Symptom von Subjektivierungsweisen 195 Computermetaphorik und das Top-down-Modell des Funktionalismus 198 Plastizität, Flexibilität und Effizienz - Die Metapher der Parallelverarbeitung 205 3.3 Handlungsfähigkeit und Normalisierung in der Debatte um Freiheit und Determinismus 216 Willensfreiheit, Vernunft und Anomalie 219 Gehirn, Körper, Handlungsfähigkeit 226 4. Mensch, Natur, Geschlecht: Philosophische Anthropologie in Interventionen zur Biotechnologie 233 4.1 Gattungsethik und Naturalisierung - Habermas'' Kritik der Gentechnologie 240 Autonomie vs. programmierte Person 243 Unverfügte Natur - verfügtes Geschlecht 247 4.2 "Natur als Norm" - Anthropologie, Ethik und Normalisierung bei Ludwig Siep 251 Anthropologie, Primatologie und Geschlecht 252 Natur als Ordnungsmacht 255 Biotechnologiekritik 258 4.3 Anthropotechnik, Züchtung, Maskulinität - Peter Sloterdijks Onto-Anthropologie 261 Der Mensch als Werfer und Schläger. Sloterdijks anthropologische Erzählung 264 Anthropotechnik, Züchtung, Herrschaft 266 Eine neue maskuline Elite aus dem Geist der Technik 269 4.4 Subjektivität, Leib und Geschlecht - Elisabeth Lists "Verteidigung des Lebendigen" 270 Der Status biologischen Wissens 273 Subjektivität, Leib, Geschlecht 277 4.5 Ausblick 280 5. Schluss 285 Literatur 295 Personenregister 321
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Politik der Geschlechterverhältnisse