Beschreibung
Wenn wir Kritik an unserer Gesellschaft üben wollen, auf welche Normen können wir uns stützen? Nur auf moralische Argumente, die wir von außen an sie herantragen? Eine Alternative zu »externen « Herangehensweisen bietet die Methode der »immanenten Kritik«, die Normen mobilisiert, die bereits in einer Gesellschaft zu finden sind. Obwohl sich die Tradition der Kritischen Theorie dieser Kritikform verpflichtet fühlt, sind ihre Grundlagen bisher nie geklärt worden. Die Studie erläutert die Möglichkeit immanenter Kritik unter Rückgriff auf aktuelle Theorien kollektiven Handelns und sozialer Praktiken. Titus Stahl entwickelt ein Modell der Kritik, das die Potenziale herausstellt, die in alltäglichen Formen wechselseitiger Anerkennung existieren.
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Autorenportrait
Titus Stahl, Dr. phil., ist akademischer Rat a.Z. an der Universität Frankfurt.
Rezension
Leseprobe
Einleitung Im September 1843 schreibt Karl Marx aus Bad Kreuznach - wo er nur kurze Zeit zuvor Jenny von Westphalen geheiratet hatte - einen Brief an seinen Freund Arnold Ruge, in dem er sich über die gegenwärtige Lage der philosophischen Gesellschaftskritik beklagt. In der Vergangenheit, so Marx, sei die Philosophie stets von der Vorstellung geprägt gewesen, dass die Auflösung aller Rätsel in ihrem Pulte [liege], und die dumme exoterische Welt [] nur das Maul aufzusperren [hatte], damit ihr die gebratenen Tauben der absoluten Wissenschaft in den Mund flogen. Auch wenn er es als Verbesserung beschreibt, dass die Philosophie im Begriff sei, diese dogmatische Sicht auf ihre eigene Rolle zu überwinden, beklagt er doch, dass jetzt eine gewisse "Anarchie" unter den Reformern seiner Zeit ausgebrochen sei. Es herrsche insbesondere Verwirrung bezüglich der richtigen Inhalte einer philosophischen Kritik. Diese Verwirrung verdankt sich jedoch, so Marx, einem methodischen Fortschritt, den er zu seiner Vollendung zu bringen beabsichtigt. Dieser methodische Fortschritt besteht darin, dass sich eine neue Form der Kritik entwickelt. Es ist das kennzeichnende Prinzip dieser neuen Form der Kritik, so Marx, daß wir nicht dogmatisch die Welt antizipieren, sondern erst aus der Kritik der alten Welt die neue finden wollen. Bei der von Marx beschriebenen, neuen Art der Kritik handelt es sich also um eine Kritik, die nicht in dem Sinne dogmatisch verfährt, dass sie zunächst rein theoretisch, ohne Bezug auf die empirische Realität bestimmte normative oder moralische Prinzipien entwirft und diese dann erst in einem zweiten Schritt an die soziale Welt heranträgt. Vielmehr soll diese neue Kritik die soziale Realität, wie sie ist, ernst nehmen, und aus dieser sozialen Realität selbst die Normen gewinnen, die die "neue" Welt regieren sollen. Eine solche nicht-dogmatische Kritik muss sich also als eine Kritik verstehen, die aus den bestehenden sozialen und philosophischen Verhältnissen kritische Prinzipien entwickelt, die in diesen Verhältnissen in irgendeinem, noch zu erklärenden Sinne bereits angelegt sind. Zugleich soll eine solche Kritik aber diese bestehenden Verhältnisse weiterhin transzendieren, also wirkliche Kritik bleiben. Beim Schreiben dieser Zeilen hatte Marx sicher nicht die Absicht, die bisherige Philosophie dafür zu kritisieren, dass sie zu radikal gewesen sei. Eine nicht-dogmatische Kritik kann (und muss) aus seiner Sicht die Normen der real existierenden Gesellschaft durchaus ablehnen. Wenn die neue Form der Kritik ihre Normen aus der Kritik der alten Welt entwickelt, kann es daher nicht darum gehen, die existierenden Vorstellungen davon, wie Menschen leben sollen, bloß aufzugreifen. Vielmehr sollen aus den Potenzialen der existierenden sozialen Verhältnisse neue Normen geschöpft werden. Wie genau dies zu verstehen ist, erfahren wir in diesem Brief aber nicht. Auch wenn also keineswegs klar ist, was genau die Vorgehensweise dieser neuen Form der Kritik auszeichnet, sollte sich das von Marx angedeutete Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Theorie für die weitere Geschichte der Kritischen Theorie als prägend erweisen: Die verschiedenen Generationen und Ansätze dieser Tradition sind nicht dadurch verbunden, dass sie sich stets auf die gleichen normativen Maßstäbe beziehen oder gar dieselben politischen Veränderungen angestrebt hätten. Sie teilen vielmehr eine methodische Annahme. Dabei handelt es sich um die Festlegung darauf, dass die kritische Sozialphilosophie ihre Prinzipien nicht unabhängig von der sozialen Realität entwickeln darf, sondern dass sie sich als Aufklärung der sozialen Realität über sich selbst verstehen muss. Diese Methode ist die Methode der immanenten Gesellschaftskritik. Auch wenn die Festlegung darauf, immanente Kritik zu betreiben, bis heute den methodischen Kern kritischer Theorien ausmacht, wurde nur selten im Vokabular der jeweils zeitgenössischen Philosophie zu rekonstruieren versucht, was dies genau bedeutet. Die Methode der immanenten Kritik ist in den vergangenen Jahrzehnten zwar für viele Theorien weiterhin ein traditionsbildender Referenzpunkt geblieben. Weil aber die ihr zugrunde liegenden metaphysischen, epistemologischen und politischen Annahmen sich nicht im zeitgenössischen philosophischen Vokabular verstehen lassen, spielen explizit ausgearbeitete Modelle der immanenten Kritik im Marx'schen Sinne heute - jenseits derjenigen Theorien, die aus politischen Gründen eine dementsprechende Verpflichtung betonen - im philosophischen Alltagsgeschäft keine Rolle. Wieso also die Frage wieder aufgreifen, was immanente Kritik ist? Wenn ein solches Projekt kein bloßes Geschäft der Traditionspflege sein soll, muss gezeigt werden, dass es philosophische, gesellschaftstheoretische und politische Probleme gibt, die ein Modell der immanenten Kritik besser lösen kann als andere Theorien. Erst wenn dies gezeigt wurde, ist es überhaupt sinnvoll, danach zu fragen, welche Aspekte der Idee einer immanenten Kritik der Erläuterung bedürfen, damit diese Idee in der heutigen philosophischen Debatte einen produktiven Bezugspunkt bilden kann. Was könnte also eine Theorie der immanenten Kritik leisten? Zunächst ist bemerkenswert, dass in der politischen Philosophie seit einigen Jahren das Interesse an den philosophischen Grundlagen der Gesellschaftskritik in Kontexten neu erwacht ist, in denen der Bezug auf eine Idee der "immanenten Kritik" keine Rolle spielt. Auslöser für diese Debatte um die Grundlagen der Kritik waren vor allem das Werk Michael Walzers und die Kontroversen um die Gerechtigkeitstheorie von John Rawls. Einige der Probleme, die diese Debatte antreiben, könnten möglicherweise gelöst werden, wenn es gelänge, die Idee der immanenten Kritik so zu reformulieren, dass sie den Ansprüchen genügen kann, die wir heute an philosophische Theorien der Kritik stellen. Das zentrale Problem, um das es in den entsprechenden Auseinandersetzungen geht, liegt in der Annahme begründet, dass die Aktivität der Gesellschaftskritik immer voraussetzt, dass die dabei erhobenen Forderungen gegenüber den Personen gerechtfertigt werden müssen, an die sich die Kritik wendet. Das Beharren auf der Notwendigkeit von Rechtfertigungen ist nicht - wie man vermuten könnte - eine rein normative Forderung dahingehend, wie Gesellschaftskritik sein sollte: Zumindest in den modernen Gesellschaften des Westens ist der öffentliche Diskurs so verfasst, dass prinzipiell keine Strategie der Kritik Zustimmung bei ihren Adressaten finden kann, die dieses Problem nicht in einer glaubwürdigen Weise bearbeitet. Der Anspruch, dass Gesellschaftskritik rechtfertigende Gründe vorbringen muss, ist in den sozialen Praktiken dieser Gesellschaften irreversibel institutionalisiert. Gesellschaftskritik sollte also nicht nur aus moralischen Gründen immer gerechtfertigt werden, sie muss auch gerechtfertigt werden, wenn sie etwas erreichen will. In vielen Fällen reicht es für eine solche Rechtfertigung aber nicht aus, dass die Kritikerinnen und Kritiker einer Gesellschaft die Gründe, die sie zur Kritik bewegen, einfach nur offenlegen. Immer wenn in unseren Gesellschaften Einzelne oder Gruppen bestimmte Gründe dafür vorbringen, dass sich diese Gesellschaften ändern sollen, wird früher oder später die Frage gestellt werden, wieso gerade diese Gründe und nicht andere maßgeblich für alle Mitglieder der jeweiligen Gesellschaft sein sollen. Es wird also nicht nur auf die Frage eine Antwort verlangt, welche konkreten Gründe es für eine bestimmte Kritik an spezifischen sozialen Praktiken gibt, sondern welche Form von Gründen überhaupt dafür geeignet ist, die Praktiken einer Gesellschaft oder einer sozialen Gruppe zu kritisieren. Wenn wir mit anderen in ein Gespräch darüber eintreten, welche Gründe überhaupt geeignete Gründe dafür sein können, unsere Gesellschaften zu kritisieren, dann ist die Gesellschaftskritik schon auf dem Weg dahin, ihre eigenen Grundlagen zu the...
Inhalt
Inhalt
Einleitung 9
Teil I: Von der immanenten Kritik zur Sozialontologie
1. Gesellschaftskritik 19
1.1 Interne und externe Kritik 26
1.2 Rationalität und Kritik 30
1.3 Rekonstruktive und immanente Kritik 34
2. Interpretation und immanente Kritik 52
2.1 Michael Walzer: Der verbundene Kritiker 54
2.2 Charles Taylors starke Hermeneutik 72
2.3 "Praxis" und "Tradition" bei Alasdair MacIntyre 94
2.4 Hermeneutische immanente Kritik und Gesellschaftstheorie 119
3. Kritische Theorie der Gesellschaft und immanente Kritik 122
3.1 Das Modell kommunikativer Rationalität 124
3.2 Das anerkennungstheoretische Modell 157
3.3 Zeitgenössische kritische Theorie und immanente Kritik 182
3.4 Sozialontologische Fragen an die Theorien der immanenten Kritik 184
Teil II: Die sozialontologischen Voraussetzungen immanenter Kritik
4. Kollektive Intentionalität 191
4.1 Die sozialontologischen Voraussetzungen immanenter Kritik 191
4.2 Kollektive Haltungen 197
4.3 Die Notwendigkeit kollektiver intentionaler Zustände 204
4.4 Zum Status kollektiver Haltungen 207
4.5 Theorien kollektiver Intentionalität 216
4.6 Eine normative Theorie kollektiver Haltungen 224
4.7 Kollektive Intentionen und intersubjektive Anerkennung 242
4.8 Zusammenfassung des Arguments 255
5. Die immanenten Normen sozialer Praxis 256
5.1 Normen, Praktiken und Regeln 259
5.2 Das Problem des Regelfolgens 278
5.3 Adäquatheitskriterien für eine Theorie des Regelfolgens 292
5.4 Soziale Lösungen des Regelfolgenproblems 301
5.5 Ein Anerkennungsmodell sozialer Normativität 325
5.6 Soziale Praktiken 354
5.7 Zusammenfassung des Arguments 368
Teil III: Von der Sozialontologie zur immanenten Kritik
6. Die Möglichkeit immanenter Kritik 375
6.1 Rekapitulation: Der Stand des Arguments 375
6.2 Fragen an eine Praxistheorie der immanenten Kritik 376
6.3 Situationen immanenter Kritik 379
6.4 Soziale Normen und sozialer Konflikt 380
6.5 Exkurs: Liberale und konservative Praktiken 385
7. Immanente Kritik 388
7.1 Epistemologie und Praxis der immanenten Kritik 388
7.2 Immanente Kritik zwischen Interpretation und Gesellschaftstheorie 403
7.3 Immanente Kritik und normativer Fortschritt 405
7.4 Exkurs: Die Kritik praktisch vermittelter Widersprüche 411
8. Verdinglichungskritik 419
8.1 Kritik und Metakritik 419
8.2 Was ist Verdinglichungskritik? 422
8.3 Der normative Gehalt der Verdinglichungskritik 425
8.4 Die Kritik an Lukács' Verdinglichungsbegriff 439
8.5 Eine praxistheoretische Rekonstruktion des Verdinglichungsbegriffs 442
8.6 Zusammenfassung 451
Schluss: Sozialer Konflikt und soziale Hoffnung 452
Literatur 458
Danksagung 474
Schlagzeile
Theorie und Gesellschaft