Beschreibung
Disability History
Herausgegeben von Gabriele Lingelbach, Elsbeth Bösl und Maren Möhring
Über Behinderung wird aktuell wieder gestritten – die Frage, ob es Menschen mit Behinderung geben soll oder nicht, hat aber eine Geschichte. Dieses Buch ist die erste historische Studie zur humangenetischen Beratungspraxis in der Bundesrepublik, die nach Vorstellungen von Behinderung und dem Umgang mit behinderten Menschen in dieser Institution fragt. Von den 1960er bis in die 1990er Jahre hinein analysiert sie die Einstellungen und Praktiken gegenüber Menschen mit geistigen Behinderungen und ihren Angehörigen sowie die Kritik daran und die Widerstände dagegen. Die Studie belegt erstmals empirisch, dass genetische Beratung darauf abzielte, Behinderung
u.a. mit Sterilisationen zu verhindern; sie wirft zudem einen kritischen Blick auf gängige Deutungen der Zeitgeschichte.
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Autorenportrait
Britta-Marie Schenk, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Seminar der Universität Kiel.
Rezension
»Britta-Marie Schenk hat eine Studie zur genetischen Beratung vorgelegt, die erstmals auch die Gruppe der geistig behinderten Menschen ins Zentrum dieses Beratungsangebots stellt.« Regula Argast, Gesnerus, 20.03.2018
»Diese inhaltlich gute und gewinnbringende Studie sei allen empfohlen, die sich praktisch oder theoretisch mit dem Themenkomplex ›Behinderung und genetische Beratung‹ befassen.« Werner Brill, Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 17.10.2018
»Das Buch gibt sehr umfassend, fundiert und detailliert Auskunft über die humangenetische Beratungspraxis der 1960er bis 1990er Jahre. Die Autorin bezieht eine Vielzahl an relevanten historischen Quellen in ihre Analyse ein und schafft somit ein facettenreiches und umfassendes Bild.« Anne Goldbach, socialnet.de, 05.09.2017
»Ein exzellenter Beitrag zu einem bisher übergangenen Thema der bundesdeutschen Geschichte.« Anna Derksen, H-Soz-Kult, 03.02.2017
Leseprobe
Einleitung "Werden wir bald in einer Gesellschaft ohne Menschen mit Behinderung leben?", fragte Die Zeit vor kurzem. Der Anlass war die Einführung eines neuen Tests, mit dem bereits im Blut der Schwangeren als erblich angesehene Behinderungen beim Embryo nachweisbar sind. Die aufgeworfene Frage wird in einer Zeit gestellt, in der die Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderungen längst ein politisches Ziel geworden und in gesellschaftliche Teilbereiche diffundiert ist. Um die Geschichte eben dieses Spannungsverhältnisses zwischen gestiegener gesellschaftlicher Akzeptanz von behinderten Menschen und den Motiven und Möglichkeiten, Behinderung zu verhindern, geht es im vorliegenden Buch. Kontinuitäten und Wandel im Umgang mit behinderten Menschen werden in einer Institution in den Blick genommen, die in den 1960er bis 1990er Jahren zur zentralen Anlaufstelle ihrer Angehörigen avancierte: die humangenetische Beratung. Diese Betrachtung genetischer Beratung ist in der geschichtswissenschaftlichen Forschung bislang unberücksichtigt geblieben. Sie ist von Interesse, weil ihre Analyse Aufschluss gibt über das Zusammenwirken eugenischer Traditionen mit neuen wissenschaftlichen Möglichkeiten, aber ebenso über ihre Grenzen und Anpassungsleistungen an neue gesellschaftliche Erfordernisse. Zudem lassen sich Behinderungsvorstellungen und ihre praktischen Folgen für die Betroffenen untersuchen. Anhand der genetischen Beratungspraxis wird die Verbindung von Behinderung und Humangenetik deutlich: "Die genetische Beratung ist ein ärztliches Angebot an alle, die eine angeborene Fehlbildung, Behinderung oder genetisch bedingte Erkrankung haben oder für sich oder ihre Nachkommen befürchten." In der genetischen Beratung können Menschen mit Behinderungen die statistische Wahrscheinlichkeit ermitteln lassen, mit der sie ihre Behinderung an ihre Nachkommen weitergeben. Zudem besteht die Möglichkeit, eine solche Angabe zu erhalten, wenn man selbst keine Behinderung hat, aber in der Familie als vererbbar angesehene Krankheiten oder Behinderungen vorliegen. Diese Definition, mit der sich das Institut für Humangenetik des Universitätsklinikums Heidelberg aktuell öffentlich präsentiert, verweist auf grundsätzliche Muster im Umgang mit Behinderung in der genetischen Beratung: Behinderung wird als klar definierbarer Gegenstand dargeboten, als vererbbar, als behandlungsbedürftig und als Auslöser für Ängste. Zugleich weckt genetische Beratung die Hoffnung der Ratsuchenden, keine Anlage für eine Behinderung attestiert zu bekommen und damit verschont zu bleiben von lebensweltlichen Einschränkungen. Dies gilt nicht nur für die Ratsuchenden selbst, sondern auch für ihre Angehörigen und Nachkommen. Liegt eine Disposition für eine Behinderung vor, kann daraus der Verzicht auf Nachkommen erfolgen. Wird eine Behinderung beim ungeborenen Kind ermittelt, entscheiden sich die werdenden Eltern mitunter für einen Schwangerschaftsabbruch. Angst und Hoffnung sind also Triebfedern genetischer Beratung, berührt sie doch existentielle Fragen nach Krankheit und Gesundheit, Leben und Tod, Entscheidungsgewalt und Zwang. Zudem erfordert diese Beratung intime Einblicke in Familienverhältnisse und -planungen. In der genetischen Beratung kumulieren aber nicht allein individuelle oder familiäre Konstellationen und Entscheidungen. Da die Ängste und Hoffnungen Ratsuchender darauf abzielen, behinderungsfrei zu bleiben, rekurriert dies auf gesellschaftliche Vorstellungen von Behinderung. Was aber ist Behinderung? Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive fällt eine Definition von Behinderung schwer, zu wandelbar und abhängig von den jeweiligen Zeitumständen war und ist es, wer wann als behindert betrachtet wurde und wird. Daher werden in dieser Arbeit unter Behinderung "historische Annahmen über individuelle körperliche, psychische oder mentale Andersheiten" verstanden, die größtenteils als defizitär aufgefasst werden und deshalb Benachteiligungen nach sich ziehen. Ebenso sind ärztliche und humangenetische Zuständigkeiten Ergebnisse gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse. Die Angst zu erben oder zu vererben beruht auf der Vorstellung, entweder selbst unwiderruflich von etwas betroffen zu sein oder aber die eigenen Nachkommen. Diese Vorstellung beinhaltet zugleich eine Deutung von Abweichung und Normalität, die ebenfalls einer Historisierung bedarf, um den Konstruktionscharakter von Behinderung in seinen sozialen Dimensionen erklären zu können. Von dieser Gemengelage ausgehend beschäftigt sich diese Arbeit mit dem Verhältnis zwischen genetischer Beratung einerseits, Behinderungs- und Normalitätsvorstellungen andererseits in gesellschaftsgeschichtlicher Perspektive. Um zu verstehen, wie es zu obiger Definition kommen konnte, muss zu den Anfängen genetischer Beratung zurückgegangen werden. Für die Geschichte der Bundesrepublik bedeutet das, sich in die späten 1960er Jahre zu begeben. In dieser Zeit liegt der Beginn der Institutionalisierung der genetischen Beratung. Seitdem stieg die Nachfrage bis in die 1990er Jahre kontinuierlich an. Mit eben diesem Zeitraum beschäftigt sich diese Arbeit, allerdings mit deutlichen Schwerpunkten in den 1970er und 1980er Jahren. Insbesondere im Laufe dieser beiden Jahrzehnte veränderte sich die genetische Beratung hinsichtlich ihres Angebots, ihrer Konzeption und der Ratsuchenden. Der Umgang mit behinderten Menschen und den dazugehörigen Vorstellungen von Behinderung unterlag in den 1970er und 1980er Jahren ebenfalls entscheidenden Veränderungen: Statt einer vor allem auf (berufliche) Rehabilitation setzenden Behindertenpolitik und -pädagogik der 1960er Jahre, wurde in den 1970er Jahren eine möglichst gleichberechtigte Teilhabe an allen Lebensbereichen für Menschen mit Behinderungen propagiert. Überdies schlossen sich in den 1970er Jahren Behindertenbewegungen zusammen, in denen behinderte Menschen selbst öffentlichkeitswirksam für ihre Rechte eintraten und Missstände kritisierten, darunter auch die genetische Beratung. Strukturwandel, neue Unsicherheiten, aber auch eine Verschiebung von Norm- und Wertsetzungen hin zu einer "radikalen Pluralisierung" sowie ein veränderter Umgang mit der NS-Vergangenheit sind Aspekte aus den vielfältigen Wandlungsprozessen und ihren Ambivalenzen in der bundesrepublikanischen Gesellschaft der 1970er und 1980er Jahre, die Behinderungsvorstellungen und humangenetische Beratung beeinflussten. Eingebettet waren diese Wandlungsprozesse in eine übergreifende Entwicklung: Die westdeutsche Gesellschaft verwandelte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts "von einer nationalsozialistisch geprägten in eine zunehmend westlich-liberale Gesellschaft". Das betraf auch den Umgang mit Behinderung, der sich in diesem Zeitraum von der Tötung von Menschen mit vor allem geistiger Behinderung im Nationalsozialismus hin zu ihrer grundgesetzlich garantierten Gleichstellung (1994) entwickelte. Diese Fortschrittserzählung differenziert der Zeithistoriker Ulrich Herbert, indem er auf "Überhänge autoritärer und illiberaler Orientierungen" in den 1970er und 1980er Jahren hinweist. Dieser Befund ist auf Behinderungsvorstellungen übertragbar: Neben den skizzierten Wandlungsprozessen herrschten auch in den 1970er und 1980er Jahren tradierte Vorurteile, Stereotype, Annahmen und Erwartungshaltungen gegenüber behinderten Menschen vor. Ähnliches gilt für die Humangenetik - die Wissenschaft, aus der die genetische Beratung hervorging -, deren Geschichte sich auch nach 1945 nicht ohne eine Geschichte der Eugenik erschließt, womit deutlich längere Kontinuitäten in den Blick geraten als nur die verkürzende Sicht bis in die NS-Zeit. Zudem wird in der neueren Forschung auch nicht mehr von einem geradlinigen Wertewandlungsprozess hin zu einer autonomeren und individualisierteren Gesellschaft ausgegangen, sondern von einem vielschichtigen und umstrittenen Prozess, der Wandel nicht linear oder gar zwangläufig erscheinen lässt. Fragestellung un...
Inhalt
Inhalt
Einleitung 7
Fragestellung und Schwerpunkte 11
Forschungsstand und Begriffsklärungen 16
Quellen und Gliederung 30
I. Voraussetzungen und Institutionalisierung humangenetischer Beratung (1960er und 1970er Jahre) 36
1. Vorläufer 36
2. Rehabilitation der Humangenetik 40
3. Gründung der humangenetischen Beratungsstelle 46
4. Die Leiterin: Marianne Stoeckenius 66
5. Tätigkeitsfelder 69
6. Beratungskonzept 74
7. Patienten, Ratsuchende und Begutachtete 78
II. Konzeptionen von Behinderung (1970er und 1980er Jahre) 81
1. Rahmenbedingungen: Vorsorge als Verhinderung von Behinderung 81
2. Humangenetische Traditionen 91
2.1 Legitimations- und Plausibilitätsstrategien 93
2.2 Symptombeschreibungen in der Praxis 101
2.3 Biografien als Krankheitsverläufe 114
3. Psychose-Gutachten in der Praxis 117
3.1 Das Narrativ ›Entwicklungsverzögerungen‹ 131
3.2 Das Narrativ ›kognitives Scheitern‹ 141
3.3 Das Narrativ ›Verhaltensauffälligkeiten‹ 147
3.4 Das Narrativ ›Leiden der Eltern‹ 157
3.5 Das Narrativ ›Familienpathologisierungen‹ 174
III. Konsequenzen humangenetischer Diagnosen (1970er und 1980er Jahre) 186
1. Heimunterbringung 186
1.1 Ausgangslage und Kritik 188
1.2 Argumentationen 191
1.3 Anthroposophische Dorfgemeinschaften 198
1.4 Lokale Verflechtungen 205
2. Sterilisation 212
2.1 Rechtslage und juristisch-medizinische Diskussionen 217
2.2 Humangenetische Diskussionen 230
2.3 Sterilisationsempfehlungen in der Beratungspraxis 253
2.4 Motive der Eltern 285
IV. Kritik an humangenetischer Beratung und Sterilisation (1980er und 1990er Jahre) 304
1. ›Krüppelkritik‹ 307
2. Einbruch in die Beratungsstelle 330
3. Kritik der ›Roten Zora‹ 333
4. Soziale Psychiatrie versus psychiatrische Genetik 339
5. Humangenetische Beratung als Lokalpolitikum 351
6. Die öffentliche Sterilisationsdebatte 367
7. Selbstbestimmungsgedanken und Stoeckenius' Ende 373
V. Resümee: Verzögerte Liberalisierung? 381
VI. Quellen und Literatur 393
Dank 427