Schwerpunkt dieses Bandes ist die Wiedergabe der illustrierten Handschrift eines Büchsenmeisters vom Anfang des 15. Jahrhunderts, die außer den Zeichnungen von Kriegsgerät auch Anleitungen zur Herstellung und Reinigung von Salpeter, Schwefel und Kohle enthält. Die Pulverrezepte sind die erste bekannte Erwähnung des gekörnten Pulvers. Der Bilderzyklus zur Kriegstechnik zeigt einfache Steinbüchsen, aber auch schon komplizierte Mehrfachgeschütze. Geschichte, Inhalt und Entstehungskontext dieses ältesten Dokuments zur Chemie und Waffentechnik der Büchsenmeister werden in der Einleitung wissenschaftlich erschlossen.
Leng, Rainer (Hrsg.): Anleitung Schießpulver zu bereiten, Büchsen zu laden und zu beschießen. Eine kriegstechnische Bilderhandschrift im cgm 600 der Bayerischen Staatsbibliothek München. Band 5 der Reihe Imagines Medii Aevi, Reichert Verlag, Wiesbaden 2000. Leineneinband, 153 Seiten; ISBN 3-89500-161-9, Preis 68,00 €.
Der Codex cgm 600, nachfolgend kurz München-Codex genannt, ist dem an früher Artillerie und Schießpulver Interessierten nicht neu. Er gehört in die Kategorie der sogenannten Büchsenmeister- und Kriegsbücher und es wurden vielfach Bilder daraus veröffentlicht, so z.B. in Essenweins „Quellen zur Geschichte der Feuerwaffen“,worin bereits 1872-1874 Faksimiles von vielen Seiten des München-Codex veröffentlicht wurden. Der Codex befasst sich aber nicht nur mit der Herstellung von Schießpulver und der Büchsenmeisterei, wie die fast zur gleichen Zeit entstandenen Feuerwerksbücher, sondern auch mit den Belagerungstechniken jener Zeit, die in den Feuerwerksbüchern nur teilweise erwähnt werden. Alle diejenigen, die sich vorher mit dem München-Codex befassten waren entweder Soldaten, wie Jähns, Köhler und Rathgen, die das Werk nur unter dem Gesichtspunkt der Kriegswissenschaften betrachteten, oder Naturwissenschaftler und Ingenieure wie Feldhaus, v. Romocki und späterKramer, denen die historisch-analytische Ausbildung fehlte.Nun hat sich dankenswerterweise der Würzburger Historiker Rainer Leng des Ms angenommen und nicht nur den München-Codex sondern auch alle anderen, dem Codex cgm 600 ähnlichen Codices oder diejenigen, die von ihm abstammen könnten, einer detaillierten Analyse unterzogen. Das Buch beginnt mit einer kurzen Geschichte des München-Codex und der Entstehung und Entwicklung der Büchsenmeisterbücher und Kriegsbücher und untersucht den Einfluss, den der „Bellifortis“ auf Bücher dieser Art und besonders auf diesen Codex gehabt haben könnte.Danach vergleicht Leng den München-Codex mit ähnlichen Handschriften, die sich in verschiedenen Bibliotheken in Europa befinden. Am Ende befindet sich eine Konkordanz der Abbildungen, die sehr nützlich für weitere Forschungen ist. Dieser Teil an sich ist schon sehr wertvoll und rechtfertigt die Anschaffung des Werkes, denn es spart viel Zeit, wenn man nicht immer wieder die anderen Codices zum Vergleich heranziehen muss.Dann folgt ein Kapitel über Pulverbestandteile, Zusätze und Rezepte. Erstaunlicherweise waren diese Rezepte bisher kaum Gegenstand von detaillierteren Untersuchungen, würden diese aber in jedem Falle rechtfertigen. Das Laden undBeschießen von Büchsen hingegen wurde schon öfter untersucht, so z.B. bei Jähns, Hassenstein und Schmidtchen.Am Ende versucht Leng, den Codex anhand der Bekleidung, welche die Figuren tragen, sowie anderer Indizien auf etwa 1400 zu datieren, eine Annahme, die sehr wahrscheinlich richtig ist.Danach kommt der eigentlich wichtigste Teil des Buches, Faksimile, Umschrift und Kommentar. Auf der linken Seite die Abbildung, rechts die buchstaben- und zeilengetreue Abschrift des originalen Textes mit einer kurzen Beschreibung. Die Abbildungen sind klar und gut und der Text ist gut zu lesen.Dann folgt ein kurzer Kommentar zu dem Text. Dieser muss im wahrsten Sinne des Wortes cum grano salis genommen werden, wenn er sich von der reinen historisch-germanistischen Materie entfernt, denn es haben sich viele Fehler, hauptsächlich die Chemie betreffend, eingeschlichen, wie z. B. S. 71 [...] die das hygroskopische Salz(gemeint ist hier das dem aus Venedig importierten Salpeter beigemischte Kochsalz = Natriumchlorid NaCl) der Umgebungsluft entzog [...]. Natriumchlorid ist nicht besonders hygroskopisch, es war der „Kalksalpeter“(Calciumnitrat),der stark hygroskopisch war und der Umgebungsluft Feuchtigkeit entzog. Oder auf S. 81 wird Kaliumnitrat erwähnt, welches jedoch in der Natur nicht frei vorkommt und das nur künstlich hergestellt werden kann, dessen Herstellungsmethode war aber zu jener Zeit noch nicht erfunden, sie erschien erst 150 Jahre später erstmalig beiErcker.Erstaunlicherweise wird auf S. 83 fol 4v bereits das Schmelzen des Salpeters beschrieben, eine Technik, die auch später noch bis weit ins 16. Jahrhundert, wie z.B. in Biringuccios Pirotechnia, beschrieben wird, die aber in praxi nicht unproblematisch ist, wie Versuche bewiesen haben und wie von Leng beschrieben nur auf Calciumnitrat(„Kalksalpeter“) anwendbar ist.Dieser Salpeterguss diente der Trocknung des „Kalksalpeters“, der mit der Methode, wie er im Mittelalter produziert wurde, fast immer als Tetrahydrat aus der Lösung ausfiel und sehr schwer richtig zu trocknen war. Und mit feuchtemSalpeter angesetztes Schießpulver zündet nicht! Betrachten wir den Vorgang, wie Leng ihn beschreibt, dann ergibt sich folgendes: Der Salpeter (Salniter ist ein mehrfach durch Kristallisation gereinigter Salpeter) wurde in ein irdenesGefäß geschüttet und ein Teil Schwefel hinzu getan. Leng äußert die Vermutung, dass der Schwefel als Temperaturindikator zugegeben wurde, der bei Erreichen der für den Guss richtigen Temperatur sich selbst entzündete, mit blauer Flamme verbrannte und so den richtigen Zeitpunkt für den Guss anzeigte. Das ist auch nichtrichtig. Betrachten wir also diesen Vorgang mit den Augen des Chemikers: der einzige Salpeter, der damals aus Venedig importiert wurde, bestand zum größten Teil aus „Kalksalpeter“ (Calciumnitrat), mit sehr kleinen Anteilen von„Kalisalpeter“ (Kaliumnitrat) und „Natronsalpeter“ (Natriumnitrat) sowie natürlich das in betrügerischer Absicht beigemengte Kochsalz (Natriumchlorid). „Kalksalpeter“ (als Tetrahydrat; Ca(NO3)2.4 H2O) schmilzt bereits bei Temperaturen > 40° C in seinem eigenen Kristallwasser, welches abgespalten wird und in der Hitze verdampft. Bei Temperaturen >560°C ist der Schmelzpunkterreicht und der jetzt völlig wasserfreie Salpeter schmilzt zu einer weißen, milchglasartigen Masse. Der zugegebene Schwefel hat eine Selbstentzündungstemperatur von 232°C, er würde also vor Erreichen des Schmelzpunktes des Salpeters sich selbst entzünden. Ammoniumnitrat ist in Natursalpeter nicht enthalten, entsteht auch nicht bei möglichen Reaktionen von Salpeter mit Salmiak. Es würde sich aber schon bei einer Temperatur von 210°C explosionsartig in Stickoxide und Wasserdampf zersetzen.Es dürfte wohl am Besten sein, die Kommentare von Leng, soweit sie die artilleristische Praxis, die Pulverchemie sowie die Herstellung von Schießpulver betreffen, kritisch zu überprüfen und nicht alles ungesehen und unüberprüft zu übernehmen. Da das Interesse an historisch und sprachlich gut recherchierten Büchern dieser Art in der englischsprachigen Welt sehr groß ist, sollte sich der Verlag vielleicht überlegen, ob das Werk nicht ins Englische übersetzt werden und ähnlich in der Anordnung wie das Feuerwerkbuch von Johannes Bengedanz herausgegeben werden sollte, und zwar mit revidierten und korrigierten Kommentaren, besonders denjenigen, welche die Pulverchemie betreffen.Im Allgemeinen kann aber gesagt werden, dass Lengs Buch „Anleitung Schießpulver zu bereiten, Büchsen zu laden und zu beschießen“ eine eindeutige Bereicherung der Literatur über die frühe Artillerie und Kriegstechnik darstellt und, mit den oben angeführten Einschränkungen, jedem wärmstens empfohlen werden kann, der sich für das Kriegswesen des Mittelalters interessiert.
In: Waffen- und Kostümkunde. 2008. Heft 1. S. 82-84.
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„Die Edition dieser Handschrift gibt einen Überblick über die kriegstechnischen Bilderhandschriften überhaupt, geht dann auf die cmg 600 und verwandte Handschriften ein, ehe die technischen Grundlagen zum Verständnis des Textes wie Pulver- und Geschütztechnologie vermittelt werden. Nach einem Literatur- und Quellenverzeichnis wird die Handschrift in Faksimile und mit ausführlichen Kommentaren ediert. Das Buch schließt damit eine wichtige Lücke im spätmittelalterlichen Kriegswesen.“
In: Pallasch. 30/2009. S. 92.