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Der Richter und sein Tagebuch

Eugen Wilhelm als Elsässer und homosexueller Aktivist im deutschen Kaiserreich, Geschichte und Geschlechter 70

Erschienen am 12.04.2018, 1. Auflage 2018
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593508665
Sprache: Deutsch
Umfang: 551 S.
Format (T/L/B): 3.3 x 21.5 x 14.1 cm
Einband: Paperback

Beschreibung

Der Straßburger Jurist Eugen Wilhelm (1866 - 1951) war ein wichtiger Protagonist der ersten deutschen Homosexuellenbewegung, an deren Bestrebungen er sich - oft unter dem Pseudonym Numa Praetorius - beteiligte. Sein Tagebuch gewährt einen umfassenden Einblick in die Selbstwahrnehmung und subkulturelle Lebenswelt eines gleichgeschlechtlich begehrenden Mannes und frankophilen Elsässers im deutschen Kaiserreich um 1900. Anhand des hier erstmals ausgewerteten Selbstzeugnisses legt die Studie die erste systematische Untersuchung von Wilhelms Leben und Wirken vor.

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Autorenportrait

Kevin Dubout ist freier Historiker und Mitarbeiter an der Forschungsstelle zur Geschichte der Sexualwissenschaft der Magnus-Hirschfeld- Gesellschaft e. V. (Berlin).

Leseprobe

Einleitung 1. Erkenntnisinteresse, Fragestellung und Ziele "Am Abend geht es mir schlecht. Selbst auf die Homosexualität habe ich keine Lust mehr. Auch das ist vorbei". Mit dieser lakonischen Feststellung von Lustlosigkeit und Lebensüberdruss brach der deutsch-französische Jurist und Sexualwissenschaftler Eugen Wilhelm aus Straßburg (1866-1951) im März 1951 seine Tagebuchführung ab. Er setzte damit einer lebenslangen Schreibpraxis, die 1885 begonnen und auf etwa 8.000 handschriftlichen Seiten beinahe ununterbrochen 66 Jahre lang bis kurz vor seinem Tod fortgeführt wurde, ein Ende. Ein letztes Mal brachte Wilhelm in diesem mit zitternder Hand verfassten Eintrag den engen Zusammenhang zwischen Homosexualität als sinnstiftende Kategorie der Selbstdefinition und der Praxis des diaristischen Schreibens zum Ausdruck. Beide bedingten und unterstützten sich gegenseitig: Als sogar die Homosexualität nicht mehr imstande war, die Selbstdefinition mitzutragen und das eigene Leben berichtenswert zu machen, hörte der Schreibprozess auf, verstummte der Diarist endgültig. Dies verdeutlicht die biographische Gestaltungskraft sowohl der Tagebuchführung als auch des Konzepts der Homosexualität bei Wilhelm. Schon allein aufgrund seines gewaltigen Umfangs und des in politischer sowie sozial- und kulturhistorischer Hinsicht äußerst bewegten Zeitraums seiner Verfassung stellt Eugen Wilhelms Tagebuch, das 2009 von dem französischen Soziologen Régis Schlagdenhauffen in Zusammenarbeit mit der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft (Berlin) entdeckt wurde, ein für historische Untersuchungen äußerst ergiebiges Zeitdokument dar. Dass ein derart umfassendes, kontinuierlich geführtes Tagebuch überliefert ist, darf als Glücksfall gelten. Denn während der nationalsozialistischen Besatzung des Elsass wurde Wilhelm am 17. Oktober 1940 als Homosexueller verhaftet und elf Tage später im elsässischen Sicherungslager Schirmeck-Vorbrück interniert. Am 30. Oktober 1940 wurde er aus gesundheitlichen Gründen entlassen und überlebte schließlich die Besatzungszeit. Dabei wurde sein Tagebuch entgegen der üblichen Verfolgungspraxis, persönliche Aufzeichnungen Verhafteter für weitere Fahndungszwecke zu beschlagnahmen, nicht konfisziert. Das Selbstzeugnis überstand auch die Bombardements der Alliierten auf Straßburg in der späteren Phase des Zweiten Weltkriegs. Eine weitere Besonderheit besteht darin, dass der Verfasser selbst sein Tagebuch nicht vernichtete, wie es sonst nicht unüblich ist, sondern eine Überlieferung und spätere Erschließung offenbar nicht ablehnte, ja - allem Anschein nach erst ermöglichte. Dies deutet bereits auf eine der möglichen Schreibabsichten des Diaristen hin: Mit seinen Tagebuchaufzeichnungen schrieb Wilhelm nicht nur für sich selbst, sondern legte einer wie auch immer gearteten Nachwelt eine umfangreiche Selbstdarstellung vor. Entgegen der beim Lesen von Tagebüchern leicht zu erliegenden Illusion der Transparenz und Unmittelbarkeit erscheint deshalb eine besondere methodische Vorsicht bei der Tagebuchauswertung angeraten. Zwar in sehr unterschiedlichen Zeitabständen und mit unterschiedlicher Ausführlichkeit, dennoch sein Leben lang hielt Wilhelm Eindrücke, Überlegungen, Erlebnisse akribisch fest, die im Zusammenhang mit sei-nem gleichgeschlechtlichen Begehren und Leben standen. Er berichtete über zahlreiche Reisen quer durch ganz Europa und darüber hinaus, über Freundschaften, sexuelle Kontakte, Liebesbeziehungen, Abenteuer und Subkulturen, reflektierte Fragen der Zugehörigkeit und der Identität, machte sein Tagebuch überhaupt zum Medium einer intensiven Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Wissen über Sexualität im Allgemeinen und über Homosexualität im Besonderen. Denn die Tagebuchführung verlief zeitlich parallel zu und in engem Dialog mit einer "diskursive[n] Explosion" um Sexualität, genauer gesagt einer "Politisierung und Medizinierung des Sexuellen" im 19. und frühen 20. Jahrhundert, an der die Sexualpathologie, die Sexualwissenschaft, sexualreformerisch orientierte Bewegungen, aber auch die Politik, die Justiz und eine breitere Öffentlichkeit beteiligt waren. Wilhelms diaristische Aufzeichnungen setzten 1885 ein - ein Jahr vor dem Erscheinen der Psychopathia sexualis des deutsch-österreichischen Psychiaters Richard von Krafft-Ebing (1840-1902), das sich zum einflussreichen Standardwerk der damaligen Sexualpathologie entwickelte und eine Schlüsselrolle in der Artikulierung einer modernen homo-sexuellen Identität spielte. Die Tagebuchführung setzte sich fort, als Homosexuellenorganisationen gegründet wurden, als sich eine sexualwissenschaftliche Disziplin allmählich etablierte, und als diverse Skandale und Affären, allen voran der Eulenburg-Skandal (1907-1909), zur Popularisierung sexualwissenschaftlichen Wissens und entsprechender Identitätskonzepte beitrugen. Mit dem vorliegenden Quellenbestand eröffnen sich deshalb vielversprechende Perspektiven für die Geschichte der Homosexualitäten, namentlich unter dem Gesichtspunkt einer Alltagsgeschichte und einer Geschichte der Selbstwahrnehmung gleichgeschlechtlich begehrender Männer. Das Tagebuch lässt sich weder in die Gattung der polizeilichen oder gerichtlichen "Verfolgungsdokumente" einordnen noch ist es auf eine unmittelbare oder mittelbare medizinische Veranlassung verfasst worden. Die Schreibsituation des Diaristen Wilhelm unterschied sich daher von der der Patient_innen, die Psychiatern ihre Lebensgeschichten zur Verfügung stellten, oder von derjenigen der festgenommenen Personen, die in Verhörsituationen biographische Bekenntnisse abfassten: Sie erfolgte ohne direkte Aufforderung von außen und ohne die Intention einer Verwertung in einem anderen Zusammenhang, etwa als Fallgeschichte oder Grundlage für ein Gutachten. Aufgrund dieser besonderen Schreibsituation kann am Beispiel Eugen Wilhelms rekonstruiert werden, wie sexuelle Identitätskonzepte im Wechselspiel von sexualwissenschaftlichen Diskursvorlagen, alltäglichen Interaktionen und eigensinniger Aneignung in einem Selbstzeugnis artikuliert wurden. Wilhelms Subjektivierungsprozess gestaltete sich äußerst vielschichtig und spannungsreich. Hierzu trugen die politischen, rechtlichen, soziokulturellen und nationalen Rahmenbedingungen im Elsass in dem hier untersuchten Zeitraum des Kaiserreichs erheblich bei. Nachdem das Elsass und Teile Lothringens 1871 an das gerade erst gegründete Deutsche Reich angegliedert worden waren, stellte die Grenzregion einen der "Krisenherde des Kaiserreichs", eine dauerhafte Streitfrage in den deutsch-französischen Beziehungen und ein während des Ersten Weltkriegs tatsächlich umkämpftes Gebiet dar. Um die Integration der Bevölkerung des Reichslands Elsass-Lothringen in das Deutsche Reich wurde stets gerungen, die nationale und politische Loyalität der Elsass-Lothringer jedoch oft infrage gestellt. Der Alltag im Reichsland zeichnete sich durch Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten aus - im Spannungsfeld von Annäherung und Misstrauen, Emigration nach Frankreich und Einwanderung aus Altdeutschland, gegenseitiger Abgrenzung und pragmatischem Miteinander altelsässischer und altdeutscher Bevölkerungsgruppen, Germanisierungspolitik und Bemühungen um verfassungsrechtliche Gleichstellung, Auto-nomiebestrebungen und frankophilem Widerstand durch einen Teil des einheimischen Bürgertums. Im Rahmen einer um 1900 entstandenen elsässischen Kulturbewegung wurden auf der Grundlage konkurrierender deutsch-französischer Zugehörigkeiten erstmals Konzepte eines spezifischen Elsässisch-Seins entworfen. Sexuelle und nationale Identitätskonzepte sind vielfach miteinander verflochten. Im 19. Jahrhundert spielten normative Vorstellungen von bürgerlicher Sexualität eine tragende Rolle im Prozess der Nationenbildung, im Nationalismus und Kolonialismus; umgekehrt wirkten Nationen-konzepte auf individuelle wie kollektive sexuelle Selbst- und Fremdbilder, auf die Herstellung von sexuellen "Anti-Typen" zurück. Um 1900 wurde der Homosexualität zunehme...

Inhalt

Inhalt Einleitung 11 1. Erkenntnisinteresse, Fragestellung und Ziele 11 2. Theoretische Grundlagen und methodische Ansätze 20 2.1 Ein biographischer Zugang 20 2.2 Historizität und mehrfache Relationalität von Identitäts-konzepten auf gleichgeschlechtlicher Grundlage 23 2.3 Ansätze der Selbstzeugnisforschung 29 2.4 Intellektuellengeschichtliche Ansätze 33 3. Forschungsstand 36 4. Quellenlage 42 5. Aufbau der Arbeit 45 I. Die Herausbildung eines spannungsreichen Selbstentwurfs (1885-1891) 46 1. Das ›Urning-Werden‹ als Aneignungsprozess 47 1.1 Voraussetzungen einer gründlichen Rezeption der Sexualpathologie 49 1.2 Die "Entdeckung" einer "Doppelnatur": die Auseinandersetzung mit dem medizinischen Diskurs 61 2. "Eine allumfassende Disharmonie"? Ein differenzierter Umgang mit Mehrfachzugehörigkeiten 82 2.1 Der Straßburger Student zwischen Deutschland und Frankreich 82 2.2 Der Bürger und seine Ideale 95 2.3 Frühe Elemente einer gleichgeschlechtlichen Lebensgestaltung 111 3. Ein Ringen um männliche Ordnung 125 3.1 Strukturierende Effekte der Tagebuchführung 127 3.2 Der inneren Unordnung Herr werden 135 3.3 Eine elitär-aufklärerische Grundhaltung 140 3.4 Anonym agieren 147 4. Resümee 154 II. Eine prekäre Selbstvergewisserung (1891-1898) 158 1. Das "Urningtum" als kollektive Erscheinung 160 1.1 Wilhelms Sozialisation im "Straßburger Urningtum" 162 1.2 Identitätsstiftende Reisen: eine urnische Internationale 177 1.3 Der Umgang mit "Tanten": Charakterstudien als männliche Selbst-Verortung 189 2. Karriere machen? 207 2.1 Die juristische Laufbahn in den 1890er Jahren: ein unsicherer Status 208 2.2 Im deutschen Justizdienst: ein Elsässer zwischen Abgrenzung und Abfindung 214 2.3 Die Beschäftigung mit Paragraph 175 aus unmittelbarer Nähe 221 3. Die Suche nach geeigneten Aktionsformen 224 3.1 Wilhelm als "Intellektueller" 225 3.2 Aufklären, vernetzen, entgegnen: zur unmittelbaren Vorgeschichte des WhK 227 3.3 Ein frühes Interesse an Kriminologie und Strafrechtsreform 245 4. Resümee 249 III. Numa Praetorius im WhK: eine tragende Rolle zwischen Hoffnung und Misstrauen (1898-1908) 252 1. Das frühe WhK von der Gründung bis zum ersten Jahrbuch: ein fragmentarisches Bild 255 1.1 Erste Kontakte mit einer im Entstehen begriffenen Bewegung 255 1.2 Erste Projekte 266 2. Die "Blütezeit" (1900-1906) 272 2.1 Eine vorsichtige Alltagsgestaltung 274 2.2 Die Mitgestaltung der Strategie des WhK 290 2.3 Der juristische Fachmann des Komitees 300 3. Das Komitee in der Krise (1906-1908) 307 3.1 Die innere Krise 308 3.2 Die "Skandalprozesse" 315 3.3 Ein "bekannter Päderast": Wilhelms Enttarnung 319 4. Funktionen und Strategien der "Bibliographie der Homosexualität" 325 4.1 Ein wissenschaftliches Forum 326 4.2 Legitimierungsarbeit: Definition und Beanspruchung von Expertise 331 4.3 Der normative Entwurf eines ›normalen‹ Homosexuellen 345 5. Resümee 358 IV. Produktive Spannungen: der Höhepunkt eines vielfältigen Engagements (1908-1918) 362 1. Widersprüchliche Mehrfachzugehörigkeiten 364 1.1 Ein Neuanfang? Wilhelms Selbstentwurf und Lebensgestaltung (1908-1914) 365 1.2 Auswirkungen des Ersten Weltkrieges 380 2. Hinwendung zu Sexualwissenschaft und Eugenik 395 2.1 Verortung Wilhelms in der frühen Sexualwissenschaft 396 2.2 "Sittlichkeitsdelikte" im Kontext der Strafrechtsreform 406 2.3 Die juristische Unterstützung sexualwissenschaftlicher Forschung und Praxis 411 2.4 Ein ausgesprochener Eugeniker 418 3. Facettenreiche Erschließung der Homosexualität 431 3.1 Ein immer schwierigeres Verhältnis zum WhK 432 3.2 Zwischen Verständigung und Polarisierung: Homosexualität als deutsch-französisches Streitthema 444 3.3 Das "Liebesleben" historischer Persönlichkeiten 459 3.4 Ethnographische Pionierarbeiten 466 4. Resümee 474 Schluss und Ausblick 478 Abkürzungen 491 Quellen und Literatur 492 1. Archivalische Quellen 492 2. Verzeichnis der Tagebuchhefte Eugen Wilhelms 495 3. Gedruckte Quellen 497 3.1 Publikationsverzeichnis Eugen Wilhelms 497 3.2 Sonstige gedruckte Quellen (bis 1945) 518 3.3 Zeitschriften, Periodika, Adressbücher 521 4. Literatur (nach 1945) 523 Dank 550

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